Jones, Susanna
er sich keinen Zorn anmerken ließ. Und vor allen Dingen konnte ich es deswegen nicht genießen, weil ich dabei die ganze Zeit Sachis unglückliches Gesicht vor Augen hatte.
Der nächste Morgen war heiter und sonnig, die Wanderung würde also nicht ausfallen. Mittlerweile war Lucy froh darüber. Es würde gut tun, andere Leute zu sehen, gut tun, von Teiji und Sachi Abstand zu gewinnen. Wegen Lily hatte ich weiterhin meine Bedenken, aber sie wurden fast völlig von meinem Wunsch verdrängt, Natsuko zu sehen. Die lächelnde, immer gelassene, gelegentlich rechthaberische Natsuko.
Natsuko war meine erste Freundin in Tokio gewesen. Sie war die zweite Freundin in Lucys Leben, nach der langgesichtigen, Posaune blasenden Lizzie. Einige Zeit nach meiner Ankunft arbeiteten wir zusammen. Als Natsuko bei einer anderen Firma eine bessere Stelle bekam, tat sie alles, was in ihrer Macht stand, um mir da gleichfalls einen Job zu beschaffen. Es dauerte mehr als drei Jahre, und seitdem arbeiten wir beide dort. Natsuko ist ungefähr so alt wie ich und ist zweisprachig aufgewachsen. Da sie in ihrer Kindheit viel herumgekommen ist, spricht sie Englisch mit wechselndem, manchmal australischem, manchmal amerikanischem Akzent. Gelegentlich klingt sie wie eine Deutsche, und von Zeit zu Zeit wie eine Irin. Sie hat ein rundes Gesicht mit Grübchen in den Wangen, und auch wenn sie gerade mal nicht lächelt, haben ihre Lippen die Form eines Lächelns. Ich habe mich schon oft darüber gewundert. Sie sieht unentwegt glücklich aus, genauso, wie ich unentwegt mürrisch aussehe, denn selbst wenn ich lächle, bleibt mein Mund manchmal unbeteiligt. Ich finde es lästig, die Lippen zu einem Lächeln verziehen zu müssen, nur um den Leuten nicht den Spaß zu verderben, wenn ich selbst in mir drin rundum zufrieden bin.
Jeden Tag lunchten wir zusammen. Reis-Fisch-und-See- tang-bento, grüner Tee aus der Dose. Manchmal plauderten wir über die Arbeit, über unsere Wochenenden. Oft fanden wir kein Gesprächsthema, aber wir saßen dann trotzdem beisammen, weil das schon für sich angenehm war. Ungefähr einmal im Monat fuhren wir zusammen in die Berge und machten eine Tageswanderung. Auf dem Weg ins Tal hielten wir an einer heißen Quelle, zogen uns aus und ließen unsere müden Muskeln im dampfenden Wasser kribbeln.
Ich betrachtete Natsuko als eine Konstante. Sie stellte mir nie irgendwelche Fragen über mein Privatleben. Manchmal erzählte sie mir von ihrem - eine Abfolge unbefriedigender Liebhaber, ihr verzweifelter, aber aus finanziellen Gründen unerfüllbarer Wunsch, aus dem Elternhaus auszuziehen - und gab mir dabei immer die Gelegenheit, von mir aus ein paar Kostproben aus meinem Leben beizusteuern. Ich nahm sie nie wahr. Nicht, weil ich Natsuko nicht vertraut hätte oder ihr gegenüber befangen gewesen wäre. Ich liebte absolut alles an ihr. Aber ich wollte es nicht dadurch verderben, dass ich von mir sprach.
Natsuko half mir in meiner Anfangszeit bei der Firma, und sie war immer da, wenn ich sie brauchte. Sie lieh mir Bleistifte, Wörterbücher. Sie brachte mir neue Kanjis und japanische Slangausdrücke bei. Jetzt ist sie Lucy gegenüber etwas misstrauisch geworden. Sie fragt sich wahrscheinlich, warum ich nie von mir erzählt habe, was ich ihr verheimlichte, und deswegen geht sie mir aus dem Weg. Es stört mich nicht, ignoriert zu werden. Es kann das Leben in vielerlei Hinsicht einfacher machen. Aber ich kann nicht bestreiten, dass ich von Natsuko ein bisschen enttäuscht bin.
Damals aber war sie gut zu mir. Sie half mir, diesen Job zu bekommen, und auch das Streichquartett hat sie für mich gefunden, und dafür werde ich ihr immer dankbar sein.
Ich kam in Shinjuku an. Es war früh am Morgen, aber der Bahnhof war schon sehr belebt. Männer in Schlips und Anzug stiegen in Züge, um zur Arbeit zu fahren, obwohl Wochenende war. Ein paar Leute in zerknitterten, verräucherten Arbeitssachen kehrten nach einer durchgemachten Nacht sichtlich müde und mitgenommen nach Hause zurück. Ich kam an einer Gruppe von schwatzenden Oberschülern vorbei, die Kendo-Schwerter in Futteralen über der Schulter trugen. Ich hielt nach Lily Ausschau und hoffte halb, sie hätte verschlafen. Aber da war sie, zusammen mit Natsuko und ein paar anderen Leuten. Lily hatte Bob eingeladen. Bob hatte seinen Kollegen Richard mitgebracht. Natsuko stand mitten im Gedränge, machte sich eifrig mit den anderen bekannt, strahlte über das ganze Gesicht.
«Hi, Lucy. Ich bin
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