Jones, Susanna
abgespannt und lustlos aussah, immer für sich allein, in schmutzigen, zerknitterten Sachen.
Lily reichte mir einen Schnitz von ihrer Apfelsine. Ich aß ihn, allerdings ohne den Blick für mehr als einen Moment vom Himmel zu wenden. Sie rutschte herum, sodass sie jetzt neben mir saß.
«Es ist schön.»
Ich nickte.
«Sie lieben Japan wirklich, nicht?»
«Ich denke schon. Ja.»
«Meinen Sie, Sie werden für immer hier bleiben?»
«Ich habe keine Ahnung.» Die Gestalt des Geist-Vulkans schien zu flimmern, und ich blinzelte ein paar Mal und wandte mich schließlich zu Lily. «Im Augenblick könnte ich mir nicht vorstellen wegzuziehen, das stimmt.»
Wir aßen schweigend, teilten uns Reisklöße und Gerstentee.
«Mag Teiji die Berge nicht?»
Ich lächelte. «Doch, ich glaub schon, aber am allermeisten mag er Tokio.»
Wenn ich mit Freunden irgendwohin ging, nahm ich Teiji nie mit. Ich wollte ihn mit niemandem teilen. Wir trafen uns anschließend, in den dunkelsten Stunden der Nacht, auf der Straße bei einem menschenleeren Bahnhof oder in einer unserer Wohnungen. Ihn im Freien, bei Tageslicht, zu treffen hätte bedeutet, ihn der Welt preiszugeben, vor der ich ihn geheim halten wollte.
Vielleicht erschien es Lily merkwürdig, dass ich etwas ohne ihn unternahm, denn ihre nächste Frage war:
«Haben Sie eine enge Beziehung?»
«Ja. Sehr eng.»
«Aber Sie machen nicht alles gemeinsam. Das ist schön. Sie haben Glück, Lucy.»
Hab ich?
Abwärts ging's schnell. Wir schlitterten und rutschten die Pfade hinunter, stolperten gelegentlich über Steine und Wurzeln. Ich ließ meine Füße zu rasch laufen und blieb mit dem Knöchel an einem Baumstumpf hängen. Ich flog vom Weg und landete auf der Seite, den Knöchel unter dem Oberschenkel eingeklemmt. Ich versuchte aufzustehen, aber mir wurde schwindlig vor Schmerz. Ich setzte mich wieder hin und biss mir auf die Lippe in der unbewussten Absicht, den Schmerz in einen anderen Körperteil zu verlagern.
Lily kam herbeigestürzt. «Okay. Zeigen Sie mal her. Ziehen Sie das Hosenbein hoch und den Strumpf hinunter. Ja, so.»
Sie schnürte meinen Schuh auf und nahm meinen Fuß in beide Hände. Sie bewegte ihn entschlossen, aber ohne mir wehzutun.
«Der Knöchel ist nicht gebrochen. Aber bös verstaucht. Ich leg Ihnen einen Verband an.»
Der Rest der Gruppe stand um uns herum und sah zu. Bob fasste mir an die Schulter und drückte sie.
«Ist nicht so schlimm. Das wird schon wieder.»
«Ich weiß. Ich hab auch nicht behauptet, dass es schlimm ist.»
Bob und Natsuko tauschten amüsierte Blicke. Ich begriff, wie abwehrend meine Bemerkung geklungen hatte. Lily holte eine Schmerztablette aus einem Beutelchen in ihrem Rucksack und gab sie mir mit etwas Wasser. Nach einer kurzen Rast konnte ich langsam weiterhumpeln. Ich fühlte mich besser. Ich spürte noch immer einen stechenden Schmerz, aber Lilys wohltuende Behandlung hatte eine tiefere Saite in Lucy berührt. Während des ganzen Abstiegs vom Berg aalte sie sich in der Wärme des Gefühls von Lilys Händen an ihrem Knöchel, des Gefühls, auf der Erde zu liegen und bandagiert und verarztet zu werden. Am allermeisten hatte mich Lilys Stimme berührt, so ungewohnt ruhig und kompetent. Wo war diese Stimme so plötzlich hergekommen? Lucy hatte sie schon einmal anderswo gehört.
«Sie reagieren in Krisensituationen sehr gut. Waren Sie bei den Pfadfindern oder so was in der Art?» Auch Bob war von Lily beeindruckt.
«Nein, nein. Das liegt einfach daran, dass ich Krankenschwester bin.»
«Krankenschwester? Das haben Sie uns nie erzählt.»
Bob war überrascht, aber kaum hatte Lily es gesagt, fand ich es absolut einleuchtend.
«Nicht? Ich wollte kein Geheimnis daraus machen. Wenn man in einer Bar arbeitet, kommt man nicht allzu häufig auf das Thema Krankenpflege zu sprechen.»
«Ich bin froh, dass Sie da waren», sagte ich wahrheitsgemäß. «Nicht, dass es besonders schlimm wäre ...»
Im Tal führte uns Natsuko über Nebensträßchen zu einer größeren Straße und dann zu einer onsen, einer heißen Quelle. Nach einer anstrengenden Wanderung gibt es nichts Besseres, als sich im mineralreichen Wasser des Berges zu entspannen. Wir trennten uns nach Männlein und Weiblein. Ich ging mit Lily und Natsuko in den Umkleideraum.
Lily hatte Hemmungen, sich vor anderen Frauen auszuziehen, tat es aber dann doch, weil sie sich noch mehr genierte, aufzufallen und Umstände zu machen. Ich fand ihre Bedenken unnötig. Lily hatte einen
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