Jones, Susanna
ihr wie von einer alten Bekannten, ja einer Schwester zu denken.
Die Geschichte, die Teijis Fotos erzählten, ging so: Es war einmal ein junger Mann, der manchmal ins Nudellokal kam, um rasch eine billige Mahlzeit zu essen, bevor er in das eine oder andere kleine Theater ging. Er liebte das Drama und den Tanz so sehr, dass er es nicht ertragen konnte, seine Abende woanders zu verbringen. Er ging hin, sooft er es sich leisten konnte, und sah sich die verschiedensten Dinge an. Das Theater brachte ihn zum Weinen. Beim Anblick der Schauspieler oder Tänzer, die die hell erleuchtete Bühne betraten, wurden seine Tränengänge feucht, und die Nase fing ihm an zu prickeln. Am besten waren die weiß geschminkten buto-Tänzer. Ihre aggressiven und erotischen Gebärden berührten ihn so tief, dass seine Beine zitterten. Auch Musicals mochte er - gleich, ob getanzt, auf Rollschuhen oder auf dem Eis aufgeführt -, und je fröhlicher die Songs waren, desto hemmungsloser weinte er. Angesichts der spektakulären Gesangs- und Tanznummern des rein weiblichen Takarazuka-Ensembles war er imstande, an einem einzigen Abend drei bis vier Taschentücher durchzuweichen.
Wenn Teiji ihn im Restaurant sah, war der weinende Mann immer nervös, leicht angespannt, wie jemand, der vor einem Vorstellungsgespräch oder einem Examen die Zeit totschlägt. Dann erzählte er Teiji von dem Stück, das er sehen würde, und sprach manchmal auch, von Schluchzern erstickt, über das theatralische Abenteuer des Vorabends.
Teiji schoss von diesem Mann ein paar Fotos, aber sie befriedigten ihn nicht. Der weinende Mann sah steif und gewöhnlich aus, selbst wenn er rote Augen hatte. Er erlaubte Teiji, ihn zu fotografieren, sagte aber:
«Sie sollten nicht mich fotografieren. Ins Theater sollten Sie gehen. Mein Leben ist völlig uninteressant. Ich bin der Zuschauer. Ich habe noch nie etwas erlebt und werde es auch nie. Deswegen gehe ich ja zuschauen. Aber nicht etwa, weil ich davon träumte, Schauspieler zu werden. Viele ziehen diesen falschen Schluss. Meine Rolle ist, im Zuschauerraum zu sitzen, und meine Pflicht ist, es gut zu machen. Ich möchte den Darstellern zuschauen. Es gibt an mir nichts, was Sie fotografieren könnten.»
Teiji wurde auf das Theater neugierig, auf diesen Teil der Stadt, mit dem er noch nie in Berührung gekommen war. Eines Abends ging er sich ein Stück ansehen, das auf einer wenig bekannten Bühne aufgeführt wurde. Er sagte sich, dass er da vielleicht neue Motive für seine Fotos finden würde, und so war es auch. Das Stück war ein Monodrama, mit einer Schauspielschülerin in der einzigen Rolle. Als sie in ihrer braunen Militäruniform, die er keiner bestimmten Armee zuzuordnen wusste, die leere Bühne betrat, wusste Teiji, dass er sie mit seiner Kamera einfangen musste. Ihr Gesicht war jung und etwas weich, aber ihre Schreie hatten die Aggressivität und die Hässlichkeit eines Mannes mittleren Alters. Teiji nahm sie vom hinteren Ende des Zuschauerraums auf. ein einziges Bild. Kurz vor Ende des Stücks schlich er sich hinaus, um sie am Bühneneingang zu erwarten. Sie war allein. Er betrachtete sie durch das Objektiv, und als sie ihn sah, lächelte sie. Ihr Ziel war, von jeder Zeitung und Illustrierten Japans fotografiert zu werden. Das hier war ein Anfang. Sie gingen in eine Bar in der Nähe des Theaters und blieben die ganze Nacht dort.
Wenn sie nicht auf der Bühne stand, war sie missmutig und unglücklich, aber zumindest froh, mit Teiji zusammen zu sein. Er erwartete von ihr nicht, dass sie sich produzierte, ja nicht einmal, dass sie redete. Ihn faszinierte das, was sie war, das Bild, das sie in seinen Augen hinterließ. Sachi vertraute ihm. Dann, als sie schwächer wurde, begann sie, ihn zu brauchen.
Ins Theater ging er zwischen seinen Arbeitsschichten. Wenn er es zu Aufführungen nicht schaffte, begnügte er sich mit Proben. In verschiedenen Theatern und Stücken sah er sie als Prinzessin, als Sekretärin, als Konkubine. Sie stolzierte in einem Kostüm aus Pfauenfedern einher, wirbelte in einem schwarzen Trikot auf Zehenspitzen. Er gab sich keine große Mühe, dem jeweiligen Gang der Handlung zu folgen, und erinnerte sich anschließend nur selten daran. Oft merkte er nicht einmal etwas von einer Handlung. Das Einzige, was ihn mitriss, war der Anblick Sachis, ihr Kostüm, ihre Stimme und ihr Gesicht, die Gesten, die sie machte. Nach den Vorstellungen oder Proben erwartete Teiji sie vor dem Bühneneingang oder in einem
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