Jones, Susanna
auf, übte, sie zu schreiben, bis mir die Strichfolge so vertraut war wie die Schreibung von «Lucy Fly».
Wir verbrachten ganze Wochenenden im Bett. Aber unsere Lieblingsbeschäftigung war, in warmen Nächten im Regen spazieren zu gehen. Und das sind unsere Gespräche, an die ich mich erinnere. Teiji brachte mir die japanischen Adverbien für verschiedene Arten zu regnen bei, die Sorte Wörter, die man in einem Japanisch-Englisch-Wörterbuch nicht immer findet.
Potsu potsu ist feiner, tröpfelnder Regen. Zaa zaa ist ein Wolkenbruch. In meinen Erinnerungen an die Zeit, die ich mit Teiji verbrachte, scheint es immer Regenzeit zu sein.
Die Nächte haben sich mir in der Vorstellung verwirrt, und vielleicht bringe ich sie etwas durcheinander, aber woran ich mich erinnere, ist dies:
Ich liege auf dem Fußboden und sehe an die Decke von Teijis Zimmer. Teiji kommt hereingehuscht und packt meine Hand.
«Es regnet. Wir können nicht zu Haus bleiben. Komm.»
Er schleppt mich hinaus auf die Straße. Ich lache. Er trägt abgeschnittene Jeans und Gummilatschen. Was ich anhabe, kann ich nicht sehen, aber ich weiß, dass ich barfuß bin. Wir platschen durch Pfützen und folgen den blanken Bürgersteigen von einer Straße zur nächsten. Auf der Hauptverkehrsstraße kreischen Autoreifen, wälzen sich Menschenmassen mit Regenschirmen vorwärts. Auf einer kleineren Straße können wir jeden einzelnen Regentropfen an seinem Bestimmungsort landen hören: auf einem Blatt, einem Fenstersims, einem Blütenblatt, potsu potsu.
Wir rennen um die Wette durch aufspritzendes Schmutzwasser zur Eisenbahnbrücke. Im Schutz der Yamanote- und der Chuo-Linie lehnen wir uns an die Betonmauer und warten darauf, dass ein Zug über unsere Köpfe wegfährt. Da die Yamanote-Züge ungefähr im Drei-Minuten-Takt verkehren, brauchen wir nicht viel Geduld aufzubringen. Ich küsse Teiji und drücke ihn so fest an mich, dass unsere T-Shirts Wassertropfen ausschwitzen. Er legt die Nase sanft an meine und lächelt. Ich tupfe mit der Zunge an seine Zähne, schiefe Perlen, die ich liebe. Als der Zug nach Shibuya über unseren Köpfen rattert, läuft mir ein Schauder von der Nasenspitze bis hinunter in die Kniekehlen. Es ist wieder still. Teiji hakt meinen BH auf und zieht ihn mit einem flackernden Lächeln durch den
Ärmel meines T-Shirts heraus. Simsalabim. Seine Stirn schiebt mein T-Shirt hoch, sodass seine Haare über meine Haut streichen. Er küsst meine Brustwarzen mit regennassen Lippen, und als der nächste Zug voller Pendler über unsere Köpfe weg saust, sind wir bereits am Vögeln. Die raue Betonmauer malt mir rosa und weiße Streifen auf den Rücken und reißt an meinen Haarspitzen.
Neulich habe ich mir die Folter angetan, unter Eisenbahnbrücken zu stehen und mich zum Schaudern zu bringen, wenn ein Zug vorbeifährt. Dann weine ich, weil Teijis Lächeln und Teijis Körper nicht da sind und weil ich so dumm bin. Dann weine ich lauter, weil meine Schluchzer widerhallen und zu mir zurückkommen und mir zeigen, wie albern ich bin. Und ich weine auch um Lily.
«Überhaupt keine Hobbys?» Oguchi bedenkt mich mit einem Blick, der fast ein Hilfeschrei ist.
«Überhaupt keine. Ich brauch keine Hobbys. Das macht mich allerdings noch nicht zu einer Mörderin.»
Er ist verwirrt, räuspert sich, sagt nichts.
Sie stehen beide auf und gehen aus dem Zimmer. Nicht ohne das Versprechen wiederzukommen, mit Verstärkung wiederzukommen, um ein paar vernünftige Antworten aus mir herauszuholen. Sobald die Tür fest verschlossen ist, lasse ich mich vom Stuhl zu Boden gleiten, krieche in die Ecke des Zimmers und lehne mich zusammengekauert an die Wand. Ich weine um Lily.
6
Sachi war im Fotokarton in der Mitte des Stapels und Lucy ganz zuoberst . Ich kannte meinen Platz, und es war ein besserer als ihrer. Es war der allerbeste Platz überhaupt. Ich hätte mich nicht als eifersüchtig bezeichnet, nicht in dem Sinne, dass ich befürchtet hätte, Teiji würde Sachi noch immer lieben. Aber ich wurde sie einfach nicht los. Mir graute vor dem Tag, an dem meine Fotos von einer Schicht von neuen verdrängt werden würden, Bildern des nächsten Menschen oder Dinges. Ich stellte mir vor, wie ich trudelnd ins Dunkel abtrieb, ins Nichts, wie Sachi. Ich fragte mich, was aus ihr geworden sein mochte, wozu sie auf diese trostlosen Partys gegangen war, wo sie immer unglücklicher, immer kränker ausgesehen hatte. Ich schrieb mir viele Geschichten im Kopf auf, und ich begann, von
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