Jones, Susanna
hätte die Tasse am liebsten überhaupt nicht wieder abgesetzt. Natürlich tat ich es dann doch, denn prompt hallte Miriams näselnde Stimme
durch den Raum: «Die Leute kaufen sich keine Tassen, damit andere sie in die Hand nehmen und angaffen. Du machst sie noch kaputt.»
An diesem Vormittag redeten wir, zwischen langen Gesprächspausen, über die Konsistenz des Tees, die Unterschiede in der Zubereitung von japanischem und englischem Tee (für grünen Tee sollte das Wasser am besten eine Temperatur von achtzig Grad haben, es darf auf keinen Fall kochen). Wir sprachen über den Kuchen, den wagashi. Das weiche, klebrige Reisklößchen war in ein Blatt gewickelt. Ich wusste nicht, von welchem Baum es gepflückt war, aber es schmeckte scharf und süß.
Schließlich räumte Frau Yamamoto unsere Tassen und Teller ab und bat uns hinüber in ihr westlich eingerichtetes Wohnzimmer. Es tat mir ein wenig Leid, den Frieden des Tatami-Zimmers verlassen zu müssen, aber ich sah ein, dass wir uns zum Musizieren auf Stühle setzen mussten.
Frau Yamamoto stellte die Notenständer auf. Zum Aufwärmen spielten wir unter ihrer Leitung ein paar Tonleitern und einfache Etüden. Sobald ihr Bogen die Saiten berührte, stimmten wir gehorsam mit ein. Ich war aus der Übung und übersah ein paar B und Kreuze, aber niemand ließ sich etwas anmerken. Als wir bereit waren, mit dem eigentlichen Musizieren zu beginnen, war mein Geist klar und gesammelt.
Frau Yamamoto verteilte die Noten, und wir spielten den ganzen Vormittag Haydn. Wir unterbrachen jedes Mal, wenn Frau Yamamoto die Stirn runzelte, und spielten einzelne Passagen oder Phrasen immer wieder von vorn, bis wir sie alle begriffen hatten. Geredet wurde so gut wie gar nicht. Die Musik schloss uns zusammen. Obwohl ich auf der Schule im Orchester gespielt und man mir, wer weiß wie oft, gesagt hatte, ich sollte auf die anderen Instrumente hören, war dies das erste Mal, dass ich die Notwendigkeit verspürte, das zu tun. Wenn
die Posaunistin Lizzie meine Mitspielerin gewesen war, hatte ich mich, so laut wie sie war, mit aller Kraft darauf konzentrieren müssen, ihr nicht zuzuhören. Ich gewöhnte mir mit der Zeit an, beim Spielen fest das Ohr an die Saiten zu legen, um auch sicher zu sein, dass ich die richtigen Töne traf. Jetzt war es anders.
In die Musik eingehüllt, konnte ich mich ungestört meinen eigenen Gedanken hingeben. Mit einem Mal betrachtete ich meine Zukunft in Japan voller Optimismus. Natürlich wusste ich, dass ich hier lange bleiben würde - das hatte ich schon vor meiner Ankunft gewusst aber zum ersten Mal empfand ich etwas wie gespannte Vorfreude. Was würde ich hier tun? Was für ein Mensch konnte aus Lucy werden, so fern von zu Haus?
Wir unterbrachen zu einem kurzen Mittagessen, gingen dann zu Mozart über und spielten bis Sonnenuntergang. Es gab gelegentliche falsche Töne, schlecht artikulierte oder rhythmisch unsichere Passagen. Wir waren keine Profis, aber das Zusammenspiel der drei Frauen war einfach schön. Es dauerte zwar seine Zeit, bis ich meinen Platz in der Gruppe gefunden hatte, doch ich spürte ihre Unterstützung wie das klare heiße Wasser einer onsen. Als wir schließlich unsere Bögen aus der Hand legten und die Notenständer zusammenklappten, brauchte man mir nicht extra zu sagen, dass ich ein vollwertiges Viertel des Ganzen war.
Frau Yamamotos halbwüchsige Tochter servierte Kaffee, und dann erzählten sie mir ihre jeweilige Geschichte. Frau Ide - der Topfschnitt - war in der Mandschurei geboren, kurz vor Ausbruch des Pazifikkrieges. An den Krieg selbst konnte sie sich überhaupt nicht erinnern, aber unmittelbar danach hatte ihre Familie nach Japan zurückkehren müssen. Sie waren die Nächte durchmarschiert, Hunderte von Kilometern weit bis zur Küste. Sie hatten weder Karte noch Kompass, aber sie folgten in der Dunkelheit den Sternen, bis sie endlich das Gelbe
Meer erreichten. Frau Ides jüngere Schwester schaffte es nicht. Sie verschwand unterwegs, und Frau Ide erfuhr nie, wohin sie gegangen war oder warum.
Frau Katoh stammte von der Insel Sado im Japanischen Meer. Sie erzählte mir lediglich, dass sie ein paar Jahre zuvor Ehemann und Sohn verlassen hatte und seitdem allein in Tokio lebte.
«Ich habe mich selbst in die Verbannung geschickt», sagte sie. «Ich werde nie wieder zurückkehren. Jahrhundertelang sind Menschen nach Sado verbannt worden, aber ich habe es umgekehrt gemacht. Sie sollten allerdings einmal hinfahren, wenn sich die
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