Jones, Susanna
Coffeeshop oder einer Bar in der Nähe des Theaters.
Sachi war Kettenraucherin, und so saßen sie immer unter einer Glocke von Zigarettenqualm. Sie lachte und weinte abwechselnd, oft von einem bellenden Husten unterbrochen. Sie machte sich nichts aus der Welt des Theaters, aber in jeder anderen war sie fehl am Platz. Sie gingen auf Partys, wo sie zu viel trank und im Badezimmer weinte. Sie mochte die Leute nicht und hatte keine Begabung für Smalltalk, aber sie brachte es einfach nicht fertig, nicht hinzugehen. Sie musste da sein, wo die Schauspieler und Schauspielerinnen waren. Manchmal erfuhr Teiji, dass sie sich - sobald er es geschafft hatte, sie nach Hause zu bringen - ein Taxi rief und zur Party zurückfuhr, auf der sie sich so unwohl gefühlt hatte. Er hatte das Gefühl, dass sie sich selbst zerstören wollte. Sie hörte auf, zu den Proben zu gehen, stand tagsüber gar nicht mehr auf, und bald wollte kein Regisseur sie mehr beschäftigen. Sie war süchtig nach den Partys, auf denen sie es nicht aushielt, und nicht einmal Teiji konnte sie vor ihnen bewahren.
Und hier ging die Geschichte nicht weiter, weil Teiji mich dabei erwischt hatte, wie ich seine Fotos durchsah. Aber das letzte Bild ließ mich nicht los. Sachi, bäuchlings auf dem Bürgersteig. Es konnte eine Überdosis gewesen sein, Volltrunkenheit, der Schlaf oder Tod. Ich fragte Teiji nie wieder nach Sachi. Und natürlich weiß ich nichts über den weinenden Mann. Das habe ich mir alles ausgedacht. Vielleicht ist er in seinem ganzen Leben noch nie im Theater gewesen. Vielleicht waren nur seine Nudeln zu heiß gewesen, und deswegen hatte er auf dem Bild, das ich gesehen hatte, rote und feuchte Augen.
Ich spielte mit dem Gedanken, ins Theater zu gehen und nach Sachi zu suchen, aber woher hätte ich wissen sollen, in welchem sie spielte? Ich hätte einen Veranstaltungskalender durchlesen und feststellen können, was wo gegeben wurde, aber das war riskant. Ein Theater ist für Lucy ein gefährlicher Ort. Ich kann mir kein Stück ansehen, ohne mich gleich hineinversetzt zu fühlen, ja, ohne mich als das Stück selbst zu empfinden. Als Kind war ich mit der Klasse ein paar Mal in Shakespeare-Dramen oder Märchenstücken, dazwischen gab's nichts. Mir graute vor den Aufführungen aus dem gleichen Grund, warum mir manchmal vor dem Einschlafen graute. Ich würde in einen Albtraum hineingesogen werden und vielleicht nie wieder aufwachen. Und dennoch, sobald ich da war und auf meinem samtbespannten Klappsitz darauf wartete, dass der Saal sich verdunkelte, ging ich mit der leidenschaftlichen Hingabe eines Schulmädchens voll und ganz im Drama auf. Ich war so konzentriert, dass ich kaum atmete, bis die Lichter wieder angingen. Das Konzept der bewussten Einbeziehung des Publikums ist Lucy von jeher absonderlich erschienen. Ich war einbezogen. Ich war jede Person des Stücks, und der Schauplatz und die Handlung auch. Ob ich Falstaff war oder ein Kindlein im Walde, ob ich ein Mordstück oder ein Mystery war, ich durchlebte es ganz und gar. Ich war zugleich Titania und Oberon, Demetrius und Lysander, Puck und Flaut der Bälgenflicker. Ich war Mond und Wand. Ich war auch Schneewittchen und sämtliche sieben Zwerge. Ich war Yoricks Schädel, und ich war ein sehr scharfes Rapier. Wenn der Vorhang fiel, konnte ich es nicht ertragen zu gehen und wollte gleichzeitig nichts anderes. Eine Lehrerin schleifte mich aus dem Zuschauerraum und zum Minibus. Ich trat um mich und schrie, ließ Haare und Fingernägel im Theater zurück. Es war eine Form von Wahnsinn, denn es spielte gar keine Rolle, ob ich im Theater blieb oder nach Haus und in mein Zimmer zurückkehrte. Ich blieb wochen- und monatelang im Stück gefangen, durchlebte es immer wieder, wandelte es Tag für Tag ab und spann es weiter aus, besessen und gegen meinen Willen. Die Menschen in meiner Umgebung blieben fast unsichtbar, fast unhörbar. Ließ mich die Raserei dann endlich los, kostete ich die Ruhe nach dem Sturm aus und erwartete voller Entsetzen die nächste Klassenfahrt.
Jetzt zwingt mich keiner mehr, ins Theater zu gehen, also tue ich's auch nicht. Ein solcher Verlust der Selbstkontrolle wäre unvertretbar; ich könnte mich niemals auf meine Übersetzungen konzentrieren. Nein, ich konnte nach Sachi nicht in einem Theater suchen. Außerdem war sie, wie aus den Fotos hervorging, ohnehin nicht mehr da. Sie war nirgendwo.
Nach Lilys Tod ging ich zu einem Teich nicht weit von meiner Wohnung. Ich suchte im Wasser
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