Jones, Susanna
Bild ansehen und denken: Das ist der Augenblick, in dem es schief zu laufen begann, der Punkt, an dem schon alles zu spät war. Vor dem Klick des Verschlusses. Nach dem Klick des Verschlusses. Dazwischen der Bruchteil einer Sekunde, in dem sich eine tektonische Verschiebung ereignete, die auf der Erdkruste nicht zu spüren war, aber zuletzt ein Erdbeben auslösen würde, das sowohl die Richter- als auch die japanische Erdbebenskala sprengte. Tatsächlich zeigt das Foto nichts anderes als Lily und Lucy an einem Tisch; es war der Akt des Fotografierens, nicht das Bild, das er stahl, was das Donnern auslöste. Und ich habe kein Foto davon, wie das Foto gemacht wurde. Dennoch zeigt das Bild, was in dem Augenblick geschah, als es aufgenommen wurde, und ist damit eine Abbildung seiner selbst. Das hätte ich schon damals begreifen müssen.
Habe ich aber nicht. Mein Kopf war voll von Sachi.
Andere Gäste kamen, blieben gerade so lange, wie sie brauchten, um ihre Nudeln zu essen und zu zahlen, und gingen wieder. Man kam schließlich zu einem ganz bestimmten Zweck hierher. Lily aber wollte reden, und wir plauderten den ganzen Nachmittag, hauptsächlich über ihre Wohnung. Sie war von ihrem neuen Zuhause hellauf begeistert, und sie rechnete es mir so hoch an, als hätte ich es mit meinen eigenen Händen extra für sie gebaut. Sie erzählte mir von all den kleinen Dingen, die sie sich gekauft hatte - einen Mückenvernichtungsapparat, einen Reiskocher. Ich hörte zwar zu, fühlte mich aber bei diesem unangenehmen Zusammenprall meiner verschiedenen Lebenssphären alles andere als wohl. Ich hätte Lily gern aus dem Lokal gelotst, aber Teiji war da. Ich konnte mich nicht von ihm trennen. Meine Fingerspitzen zuckten, so wie immer, wenn ich mich ärgere, und ich presste sie die ganze Zeit fest gegen das Tischbein.
Gegen fünf hatte Teiji Feierabend und schlug vor, wir könnten zusammen ein Bier trinken gehen. Ich wollte mit ganzer Kraft, dass Lily ablehnte, wusste aber, dass sie das nicht tun würde. Seit sie Lucy kannte, schien sie keinen Bedarf an anderen Freunden zu haben.
«Ich glaube, Lily möchte nach Haus.»
«Nein, nein. Ich würde gern noch irgendwo was trinken gehen. Gibt's eine Bar hier in der Nähe?»
Teiji nickte. Ich war gereizt, aber der einzige Ausweg wäre gewesen, dass ich selbst nach Hause ging. Ich wollte mit Teiji zusammen sein, also konnte ich nicht weg. Teiji schien sich darüber zu freuen, dass Lily mitkam. Im ersten Moment fragte ich mich, ob er Angst hatte, mit mir allein zu sein, ob er befürchtete, dass ich wieder anfangen könnte, ihn über Sachi auszufragen.
Wir traten hinaus ins Tageslicht, und Teiji führte uns zu einer izakaya, einer großen Bar mit langen niedrigen Tischen und mit Tatamis ausgelegtem Boden. Wir zogen uns die Schuhe aus und stiegen hinauf in den dunklen Raum. Mehrere Kellner riefen uns ihre Willkommensgrüße zu, und einer begleitete uns an einen Ecktisch. Teiji und ich setzten uns an die eine Seite, Lily an die andere. Wir bestellten eine große Flasche Bier und eine Schüssel gesalzene grüne Sojabohnen. Als die Sachen kamen, hatte Lily glänzende Augen.
«Sind Sie in Tokio viel ausgegangen, Lily?», fragte ich und wusste, dass die Antwort nein war.
«Eigentlich nicht. Im Pub muss ich fast jeden Abend arbeiten. Und ich hab auch keine Lust, dauernd mit meinen Kollegen auszugehen, und deshalb ... Jetzt, wo ich allein wohne, ist es allerdings ein bisschen einsam. Nicht, dass es mir in meiner Wohnung nicht gefallen würde, ich find's da wunderschön.» Sie lächelte mir dankbar zu. «Alle sonstigen Leute, die ich kennen lerne, sind ja Lehrer. Sie kennen natürlich ein paar von ihnen. Bob ist nett. Aber ich glaube nicht, dass wir viel gemeinsam haben. Ich meine, Sie sind Übersetzerin, ich weiß, aber Sie sind anders. Vielleicht liegt's daran, dass wir aus demselben Ort kommen.»
Mit zusammengebissenen Zähnen erklärte ich Teiji, dass Lily und ich aus demselben Teil desselben Landes stammten. Das schien ihn zu interessieren, obwohl er, wie auch Lily, zunehmend weniger nüchtern und aufnahmefähig war. Es gehört schon mehr dazu als ein paar Glas Bier, um Lucy aus dem Gleichgewicht zu bringen, und so trank ich ordentlich was weg, um die beiden einzuholen. Teiji sagte zu Lily: «Sie wirken anders als die anderen Ausländer in Japan.»
«Wie meinen Sie das?»
«Ich weiß auch nicht. Ich glaube, Sie waren nicht richtig bereit herzukommen. Vielleicht waren Sie in Ihrer Heimat
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