Jones, Susanna
Geschichte, die sie ihm am Vorabend erzählt hatte, nachdem wir, aufgekratzt, aber auch mit einem ziemlich schmuddeligen Gefühl, aus dem Jazz-Club zurückgekommen waren. Es war diese Geschichte, glaube ich, die Teiji dazu veranlasste, die ganze Nacht wach zu bleiben und mich anzustarren, während ich, meiner Last entledigt, wie ein Säugling durchgeschlafen hatte. Als ich am Morgen aufwachte, starrte er mich an und sagte: «Du bist ein wenig eigenartig», und ich verstand nicht, was er meinte.
Woran ich ihn hatte partizipieren lassen, war mein allererstes sexuelles Erlebnis, Lucys erster Biss in den Apfel. Ich erzählte ihm davon, weil ich, als er neben mir im Bett lag, wieder an Sachi und meinen Diebstahl an ihren Geheimnissen denken musste. Ich dachte, ich könnte etwas von der Intimität, die ich an jenem Abend veruntreut hatte, dadurch wieder herstellen, dass ich ihm meinerseits etwas anvertraute. Ich ging außerdem davon aus, dass er - wie beim vorigen Mal, als ich ihm meine Geschichten erzählt hatte - einschlafen und kein Wort mitbekommen würde.
Als Teenager war Lucy noch weniger attraktiv, als sie es jetzt ist, und außerdem gezwungen, vor einem weniger bereitwilligen Publikum zu spielen: Die Jungen machten nicht mit, und sie wollte es auch gar nicht. Ihre einzigen Interessen waren ihr Cello und ihre Geheimsprachen. Sie fand sich schließlich damit ab, dass mit einem Jungen zu gehen etwas war, was manche Mädchen taten und manche eben nicht. Genauso wusste Lucy, dass es nicht ihre Bestimmung war, Make-up und modische Kleider zu tragen.
Eines Sonntagnachmittags, als Lizzie an Hypochondrie darniederlag, fand sich Lucy vor der Tür einer anderen Klassenkameradin wieder. Das Mädchen hieß Caroline, und an ihre Tür klopfte Lucy, wie sie sich jetzt zu erinnern meint, wegen eines Erdkundereferats.
Der Erdkundelehrer erteilte ständig sinnlose Aufgaben, wie auf schematischen Darstellungen von Bauernhöfen die Anzahl der Schafe nachzuzählen oder auszurechnen, wie viel Weizen nötig wäre, um ganz Ost-Yorkshire mit Brot zu versorgen. Lucy empfand die ihr vermittelte Bildung als hochgradig provinziell und nutzlos. Nie bekam sie die Geographie der Welt beigebracht, die Namen der verschiedenen Länder und was man dort jeweils, reiste man hin, vorfinden würde. Der einzige Grund, warum sie sich in ihrem Atlas so gut auskannte und bereits mit dreizehn die Namen der Hauptstädte sämtlicher Staaten wusste, waren ihre stundenlangen nächtlichen Privatstudien. Andere Kinder in ihrer Klasse konnten die Isle of Wight nicht von Australien unterscheiden, bekamen aber gute Noten, weil sie vier verschiedene Schweinerassen korrekt erkennen konnten. Lucy nahm sich einen Staat nach dem anderen vor und lernte dessen größere und kleinere Städte auswendig, den Namen der Landessprache, die Musik, weigerte sich aber grundsätzlich, heimatkundlich-landwirtschaftlichen Fragestellungen mehr als nur symbolische Aufmerksamkeit zu schenken. Sie war mit ihrer autodidaktisch erworbenen Bildung zufrieden, wenn sie auch viele Jahre später zu ihrer leichten Bestürzung feststellen musste, dass der Atlas unter ihrem Bett ein älterer Jahrgang gewesen war. Zum Träumen einladende Orte wie Ceylon, Formosa, Persien und Siam liefen mittlerweile unter anderen, weniger exotischen Namen.
Sie trat ins Haus und folgte der schüchternen Caroline durch den nach Bacon riechenden Flur ins hintere Zimmer. Carolines Vater kam vom Garten herein und begrüßte die beiden mit einem herzlichen Hallo. Er war Ausländer. Im kleinen Dorf von Lucys Kindheit bedeutete das schon einiges. Es gab nur wenige Ausländer in der Gegend, und er selbst machte so wenig Aufhebens davon! Sie hatte im Coop gehört, er sei Russe, habe aber, als er nach Großbritannien kam, einen englischen Namen angenommen: Brian Church. Trotz seines verräterischen Akzents hatte Caroline immer bestritten, dass er etwas anderes als Brite war. Lucy hatte über Russland gelesen und glaubte, Brian Churchs richtiger Name sei Boris Tschechow. Sie hatte ihn manchmal in dem einen oder anderen Laden des Ortes reden hören, eine raue Stimme, eine Spionen- und Wodkastimme. Sie blieb im Coop stehen und lauschte, während er sich im Nebengang mit einem anderen Kunden über den Brotpreis unterhielt. Sie sehnte sich danach, ihn von Russland sprechen zu hören, doch er tat das nie. Dementsprechend aufgeregt war sie, als sie, ihre Erdkundesachen unter dem Arm, in seinem hinteren Zimmer saß und seinen Gruß
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