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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Erde bebt
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erwiderte.
    Er ging sofort aus dem Zimmer, aber Lucys Augen suchten den Raum nach Matrjoschkas ab, Ballettschuhen, Bärenfellen, was auch immer.
    Hier folgt eine Lücke in der Geschichte, da Lucy sich nicht genau erinnern kann, was danach geschah; sie vermutet, dass sie zusammen mit Caroline am Referat arbeitete. Sie müssen über Weizen oder Mais geredet, etwas zu schreiben gefunden haben. Vielleicht zeichneten sie den Plan eines Bauernhofes. Aber sie weiß, was danach geschah.
    Sie stand auf dem oberen Treppenabsatz, draußen vor dem Badezimmer. Sie hatte die Tür öffnen wollen, sie aber verschlossen gefunden. Die Klospülung rauschte, und Carolines Vater kam, sich die Hände seitlich an der Hose abtrocknend, heraus. Er lächelte durch buttergelbe Zähne und entschuldigte sich. Sie nahm die Gelegenheit wahr, ihn mit ihren Krähenaugen zu fixieren, tief in seine Pupillen zu starren, die russisch waren und ein anderes Leben und Land gesehen hatten.
    Sie wollte sein Leben sehen, es wie ein Buch lesen.
    Er starrte verwirrt zurück. Seine wuchtige Stirn war gefurcht, seine Lippen waren zusammengekniffen. Schweißperlen begannen sich direkt über seinen Augenbrauen zu sammeln. Er folgte ihr ins Bad und entledigte sie mit ein paar Grunzern der Jungfräulichkeit, die sie so lange mit sich herumgeschleppt hatte. Als Lucy zwanzig Minuten später das Haus verließ, war sie innen etwas wund und hatte am Oberschenkel den Abdruck eines Wasserhahns, wie eine Tätowierung.
    Die nächsten paar Wochen bildete ich mir ein, zu einer halben Russin geworden zu sein. Ich nannte mich insgeheim Olga und taufte das Baby, das, wie ich glaubte, in mir heranwuchs, Natascha. Es waren bedeutungsschwere, erregende Tage. Aber eines Morgens kam Caroline nicht zur Schule, und ich erfuhr, dass ihr Vater am vorigen Nachmittag mit seinem Kanu in See gestochen war. Wieder zurückzupaddeln hatte er sich gespart, und seine Leiche war am Abend an Land gespült worden. Eben noch Halbrussin, war ich auf einmal halb tot. Und innen drin war auch kein Baby. Rein gar nichts war da. Als die Regionalzeitungen von dem Zwischenfall berichteten, fand Lucy heraus, dass Brian Church nicht aus Russland, sondern aus den Niederlanden gekommen war.
    Während ich meine Geschichte erzählte, hatte Teiji den Arm um meinen Kopf gelegt. Er streifte meine Wange mit der Nasenspitze, dass die Härchen auf meiner Haut prickelten. Als ich zur Passage über Brian Churchs Selbstmord kam, rückte er ein Stückchen ab. Ich bekam es kaum mit, außer dass mir am Gesicht kalt wurde. Ich fragte mich, ob ich vielleicht zu viel gesagt hatte, aber dann schlief ich auch schon.
    Am nächsten Tag herrschte zwischen uns eine kühlere Atmosphäre. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ich ihn schockiert hatte, aber ich wusste es doch. Als wir am Nachmittag zum Bahnhof gingen, machte er ein Bild von mir, aber es war nicht wie sonst. Das Klicken des Verschlusses war kein natürlicher Teil seiner Bewegung, war nicht seine gewohnte unbewusste Handlung. Er starrte durch den Sucher, umkreiste mich bemüht, runzelte gereizt die Stirn und schoss zuletzt, resigniert, das Foto.
    «Teiji», sagte ich. Aber weitere Worte hatte ich nicht zu bieten. Ich wusste nicht, was ich ihm hätte sagen können, weil ich keine Ahnung hatte, was er dachte. Vielleicht, dass ich so jung und Brian Church so alt gewesen war, dass ich einen Mann in den Selbstmord getrieben hatte, dass ich mit dem Vater einer Klassenkameradin gevögelt hatte, vielleicht, dass ihm, Teiji, die Vorstellung unerträglich war, dass ich je mit einem anderen Mann geschlafen hatte. Er könnte gedacht haben, dass Brian Church, wie Sachi, der Vergangenheit angehörte und dass es falsch gewesen war, ihn wieder zurückzuholen. Jetzt würden wir ihn nie wieder loswerden.
    Teiji fixierte mich mit seinen braunen durchscheinenden Augen und hoffte vielleicht auf eine Aufhebung der vergangenen Nacht, auf etwas, worin ich meine Geschichte wieder einschließen könnte, da, wo ich sie gefunden hatte. Aber das stand nicht in Lucys Macht.
    10
     
    Die Insel Sado liegt im unheilbringenden Nordosten und im gleichermaßen unheilbringenden Nordwesten, je nachdem, wo man gerade ist und wer man ist . In alten Zeiten, als Kyoto noch die Hauptstadt war, konnte alles, was nordöstlich von ihr lag, ihr Unglück bringen, also auch die Insel Sado. Ich erfuhr diese Tatsache von Frau Katoh, die auf der Suche nach ein bisschen Glück Ehemann und Sohn in Sado

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