Jorina – Die Jade-Hexe
nicht zersprungen ist, so wird er auch künftig ganz bleiben. Wir werden langsam wandern.«
»Geh ohne mich!« wehrte er ab.
»Ihr denkt, dass ich Euch hier zurücklasse?«
»Du hast keine andere Wahl!«
»O doch!« Jorina trat so nahe vor den Ritter, dass ihre schlammigen, feuchten Rocksäume seine Füße berührten und die groben Holzpantinen gegen die schmutzigen Stiefel stießen. »Ich kann bei Euch bleiben und mit Euch gemeinsam darauf warten, dass die Galgenvögel zurückkommen, die uns ausgeraubt haben! Wenn wir dabei umkommen, so ist es allein Eure Schuld!«
Ihre Augen sprühten förmlich Funken, und sie stemmte die Hand mit dem Messer in die Hüften.
»Sie einsichtig, meine Kleine!« riet er heiser. »Dies ist weder die Zeit noch der Ort, barmherzig zu sein. Mach dich fort und kümmere dich nicht länger um einen Verdammten. Du weißt nicht, wer ich bin!«
»Euer Verstand leidet noch unter den Folgen jenes verwünschten Schlages«, erklärte sie geradeheraus. »Denkt Ihr, ich hätte Euch aus Auray geschmuggelt, um Euch im Wald von Penhors den Raben und den Räubern zu überlassen? Ihr braucht mich!«
»Ich bin es nicht wert, dass du dein Leben für mich aufs Spiel setzt.«
Jorina bedachte ihn mit einem rätselhaften Blick. Sie erahnte die Verzweiflung, die ihn beherrschte, aber sie begriff nicht, weshalb er sich so hängen ließ. Er hatte dringend einen Menschen nötig, der ihn wieder zur Vernunft brachte.
»Ihr täuscht Euch!« entgegnete sie ernsthaft. »Es ist die Pflicht eines jeden Christenmenschen, einem anderen in Not beizustehen.«
»Gütiger Himmel, hat dir niemand Gehorsam beigebracht, Mädchen?«
Jorina verzog den Mund. Sie hatte die letzten drei Jahre ausschließlich gehorcht, und wohin hatte es sie gebracht? Zurück in den Wald von Penhors, aus dem sie damals geflohen war! Einwandfrei ein Argument gegen absoluten Gehorsam.
Zudem verspürte sie nicht den geringsten Wunsch, allein zu sein, sich fragen zu müssen, was sie mit sich und ihrem Leben anfangen sollte. Der Seigneur, mochte er auch noch so störrisch und schwierig sein, war ihr ganz persönliches Bollwerk gegen diese drohende Einsamkeit.
»Laßt uns gehen!« forderte sie ihn auf, und dann stellte sie ihm die Frage, die sie schon die ganze Zeit hatte stellen wollen. »Wie ist Euer Name, Sire?«
»Raoul«, antwortete er, nachdem er so lange geschwiegen hatte, dass sie schon fürchtete, er würde niemals etwas sagen. »Raoul de Nadier, Waffengefährte und Vasall des edlen Herrn von Blois. Zumindest war ich dies, bis zur Katastrophe der Schlacht von Auray ...«
Seine Worte riefen Jorina wieder in Erinnerung, was sie beim Besuch des Söldnerführers belauscht hatte. Sie hatte bereits den Mund geöffnet, aber dann dachte sie, dass dies vielleicht weder der richtige Ort noch die richtige Zeit war, ihm davon zu berichten.
»Nun, Messire Raoul de Nadier ...« Sie wählte die korrekte Anrede, als wollte sie die offiziellen Silben seines Namens erst einmal kosten. »Ich schlage vor, wir halten uns nach Süden und verlassen diesen Pfad!« Sie klemmte sich das Bündel unter den Arm, ehe sie neben ihn trat und mit einer Bewegung ihres Kopfes zur Seite deutete. »Stützt Euch auf mich und kommt!«
Raoul de Nadier hatte wirklich nicht die Absicht gehabt, ihrem Befehl zu folgen. Aber mit welchem Hexenkunststück sie es am Ende doch vollbrachte, dass er ihr gehorchte, vermochte er selbst am allerwenigsten zu begreifen. Schon nach den ersten, schwankenden Schritten hörte er ohnehin auf zu grübeln. Alles was an Atem, Kraft und Willensstärke in ihm steckte, hatte er nötig, um auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Das Grün des immer dichter werdenden Waldes verschwamm vor seinen Augen, während pures Feuer in seiner Schulter tobte. Sein Schädel drohte bei jeder Erschütterung auseinanderzuspringen. Die Geräusche des Waldes erstickten im krampfhaften Keuchen seines Atems. Kräftezehrend war der Versuch, einen bleischweren Fuß vor den anderen zu setzen. Wieder und wieder ...
Bei Jorina hingegen erneuerte der tiefgrüne Dom des Waldes, der sich schützend um sie schloss, auf wundersame Weise ihre verbrauchten Kräfte. Sie missachtete die eigenen Schmerzen und fand zu jenen Fähigkeiten zurück, die ihre Mutter sie gelehrt hatte. Sie führte Raoul de Nadier mit traumwandlerischer Sicherheit über versteckte Wildpfade und kaum sichtbare Routen, fort von der drohenden Gefahr des häufig benutzten Weges, denn dort, das sagte ihr
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