Jorina – Die Jade-Hexe
tagelang, dass sie ihn überhaupt bei sich trug. Mochte er in Auray auch noch so viel wert sein, hier im Reich des Waldes war er nur ein Stein von vielen. Ein belangloser grüner Kiesel. Vielleicht in Farbe, Form und Leuchten von besonderer Schönheit, aber nicht von Wert.
Es wurde ein höchst notdürftiges Lager, das sie im tiefsten Punkt unter dem Felsdach auspolsterte, aber Raoul de Nadier stellte ohnehin keine Ansprüche. Die mörderische Anstrengung des Marsches hatte sein Fieber wieder aufflackern lassen, und sie hatte Probleme, die widerspenstige Gestalt überhaupt unter die trockene Zuflucht zu zerren. Er wollte neben der Quelle liegen bleiben und machte keine Anstalten, ihr zu helfen.
In den Fieberfantasien des Kranken wurde sie zum lästigen, hartnäckigen Störenfried, der ihn ständig davon abhielt, in jenen Abgrund des Vergessens zu sinken, nach dem er sich so verzweifelt sehnte.
»Hexe ...«, murmelte er in einem Anflug von Zorn, während sie ihn dazu zwang, kühles Wasser aus der hölzernen Schale zu trinken.
»Freilich.« Jorina nickte resigniert. »Das ist die letzte Beleidigung, die euresgleichen einfällt, wenn alles andere nichts nützt. Und nun kommt, ehe ich Euch an den Beinen unter den Felsen ziehe ...«
Sie plagte ihn so lange, bis er schließlich aus reiner Verzweiflung hinüberkroch und sich fallen ließ, sobald sie ihn in Frieden ließ. Japsend zog Jorina die löcherige Decke über ihn und sank resigniert auf die Fersen zurück.
Dämmerte es bereits, oder war es hier immer so dunkel? Sie konnte kaum noch die Umrisse der Eiben erkennen. Lediglich das plätschernde Murmeln des Wassers blieb sich gleich. Hoch oben im Geäst krächzte ein Eichelhäher und bekam von Ferne eine Antwort. Ein raschelnder Luftzug bewegte die gelblichen Blätter der Laubbäume zwischen den Tannen und ließ manche knisternd zu Boden segeln. Es roch intensiv nach Herbst, nach feuchter Erde, Verfall und Moos.
Jorina lehnte sich gegen die Felswand und schloss erschöpft die Augen. Sie wusste, dass sie essen sollte, ein wenig trinken und sich selbst eine Liegestatt bereiten, aber sie konnte sich nicht mehr dazu aufraffen. Sie sank in sich zusammen und merkte nicht einmal mehr, dass sie die Wange auf den Arm bettete und ihre Atemzüge tiefer und regelmäßiger wurden. Sie ertrank in einer unendlichen Woge der Erschöpfung.
Irgendwann fuhr sie hoch und starrte verblüfft in den sonnengesprenkelten Schatten ihres kleinen Unterschlupfes. Sie hatte geträumt, und schwer atmend strich sie sich die Haare aus der Stirn. Sie versuchte zwischen Wirklichkeit und Einbildung zu unterscheiden. Was hatte sie gesehen? Wo befand sie sich? Welche Tageszeit war es?
Die Bilder verwischten sich. Eben noch hatte sie ein goldenes Kreuz in den Händen gehalten. Alt, kostbar, mit rätselvollen Zeichen und Juwelen geschmückt. Eines der Kleinode auf den Spitzen war der Jadestein gewesen, den Mutter Elissa ihr anvertraut hatte. Unwillkürlich tastete sie nach dem Kiesel an ihrer Taille. Er gehörte in dieses Kreuz! Weshalb hatte die Äbtissin von Sainte Anne ein so altes und bedeutsames Relikt zerstört? Aus Mutwillen? Aus Angst? Weil sie keinen anderen Ausweg sah?
»Hüte den Stern und bewahre ihn für den richtigen Herrn!«
Hatte sie diesen Befehl geträumt, oder woher kamen die Worte? Sie erinnerte sich nur an eine dunkle Frauenstimme, volltönend wie eine Glocke und gebieterisch. Sie schaute zu dem schlafenden Mann hinüber, er schien nichts gehört zu haben. Das gleichmäßige Auf und Ab seiner Brust unter der Decke kündete von tiefem Schlaf.
Jorina rollte den Edelstein aus seinem Gefängnis. Von ihrer Körperwärme durchglüht, lag er funkelnd und leuchtend auf ihrer rauhen Handfläche. Grün wie die Augen des Seigneurs. Grün wie die Schatten des Waldes, die ihnen Sicherheit versprachen. Was sollte sie mit dem Stein tun? Zum ersten Male begriff sie, dass sein Besitz für sie Gefahr bedeuten könnte.
Man würde sie verdächtigen, das Kleinod bei der Plünderung von Auray gestohlen zu haben, und im schlimmsten Fall würde man sie zur Strafe dafür sogar aufknüpfen. Im günstigeren Fall würde man ihr nur die rechte Hand abhacken. Sie wollte weder das eine noch das andere erleben.
Sie schaute suchend an der Felsmauer entlang und entdeckte kurz oberhalb des Sandbodens eine schwarze Maserung, die entfernt an einen Stern erinnerte. Ohne zu zögern, grub sie mit bloßen Händen ein mehrere Handbreit tiefes Loch in den weichen
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