Jorina – Die Jade-Hexe
eine innere Stimme, würde man sie suchen.
Freilich wusste sie, dass sie dem Verwundeten nicht zu viel zumuten durfte, und sie atmete erleichtert auf, als sie in der sinkenden Nachmittagssonne endlich fand, was sie suchte. Eine sprudelnd klare Quelle, weit genug entfernt von dem Ort des Überfalls. Reines, kühles Wasser im Überfluss, ein Luxus, den sie bitter vermisst hatte.
Sie ließ den halb bewusstlosen Mann auf ein weiches Moospolster gleiten, das zwischen hohen Farnkräutern ein so angenehmes Bett für ihn abgab. Mit geschlossenen Augen sank er nieder, und sie wagte nicht nachzuschauen, ob es Besinnungslosigkeit oder schiere Erschöpfung war, die ihn umfing. Jorina ließ ihr Bündel fallen und sank auf die Knie. Sie zitterte vor Erschöpfung, aber sie war dankbar und glücklich. Sie hatte es geschafft!
Prüfend sah sie sich um. Einer jener riesigen einzeln stehenden Felsen, die so typisch für ihre Heimat waren, beschützte das kostbare Wasser. Er ragte zwischen den Bäumen schräg über das natürliche Becken, das sich das rinnende Wasser im Laufe ewiger Zeiten selbst gegraben hatte, ehe es als Bach davonplätscherte. Ein paar undurchdringliche Eiben bildeten einen Halbkreis nach Norden, sodass zwischen Wasser und Fels eine gut zehn Fuß tiefe, trockene Höhle mit weichem Sand entstanden war, die kein Regen erreichte. Die wenigen Abdrücke auf diesem empfindlichen Untergrund stammten einwandfrei von Tieren des Waldes und nicht von Menschen!
»Heilige Anna, ich danke dir«, flüsterte sie und faltete in frommer Gewohnheit die Hände. Mutter Elissa hätte sie dafür gerügt, dass sie es dabei beließ und nicht den üblichen Rosenkranz anfügte, aber Jorina kam es inzwischen bereits so vor, als seien die Jahre im Kloster lediglich ein Spuk gewesen.
Wie magisch angezogen wanderten ihre Blicke zu dem Mann mit den ungewöhnlichen grünen Augen. Er war auf sie angewiesen, auf ihre Hilfe, ihre Unterstützung und ihre Fähigkeiten. Schon aus diesem Grund versagte sie sich die Ruhe, nach der sie sich sehnte. Die kurze Rast hatte jedoch ärgerlicherweise den Schmerz in ihrem Körper wieder anschwellen lassen. Es fiel ihr schwer, sich aufzurichten, und erst als sie sich reichlich Quellwasser ins Gesicht gespritzt hatte, konnte sie sich auf die wichtigsten Einzelheiten besinnen, die es zu erledigen galt.
So zum Beispiel trockene Gräser und Blätter für eine Liegestatt zu sammeln und jene Früchte des Waldes zu ernten, die ihren drängendsten Hunger lindern würden. Jorina machte sich an die Arbeit, nur beobachtet von den Eichhörnchen, mit denen sie sich um die Nüsse stritt, und den Vögeln, die gleich ihr nach den letzten Beeren suchten. Sie grub in der Nähe der Quelle nach essbaren Wurzeln und pflückte saftig grüne Kressestengel dazu.
Wenn es ihr jetzt noch gelang, irgendwo Pilze zu finden, hatte sie die wichtigsten Zutaten für eine Brühe beieinander, die sowohl dem Kranken wie ihr neue Kräfte schenken würde. Keine besondere Delikatesse, aber nahrhaft.
Ihre Mutter hatte sie diese Dinge gelehrt, und während der Jahre in Sainte Anne hatte Jorina nichts vergessen. Alaine, wie die Leute die schweigsame Kräuterfrau genannt hatten, ehe sie das schreckliche Schimpfwort Hexe für sie verwendeten, war immer etwas Besonderes gewesen. Von anderer Art als die Frauen von Penhors. Eine schweigsame, hagere Gestalt, der das harte Leben die einstige Schönheit geraubt hatte. Ihr seltenes Lächeln galt allein der Tochter, die sie hütete und bewachte.
Sie hatte nicht geduldet, dass Jorina mit den Mädchen des Dorfes Kontakt hatte, und sich nie im Dialekt der einfachen Leute mit ihr unterhalten. »Es hat keinen Sinn, so zu tun, als wärest du eine von ihnen«, hatte sie auf Jorinas Fragen geantwortet. »Wenn du überleben willst, musst du stärker, klüger und gewitzter als alle anderen sein!«
Die Erinnerungen überfielen sie mit solcher Macht, dass sie mitten im Schritt verharrte. Was wohl ihre Mutter von ihren hartnäckigen Versuchen hielt, ihr Schicksal mit einem Manne vom Schlage Raoul de Nadiers zu verbinden? Von ihrem einfältigen Wunsch, einen Menschen zu besitzen, der ihr Leben teilte? Der zu ihr gehörte und sie nicht im Stich ließ, wenn sie nur genügend für ihn tat?
Sie hätte alles dafür gegeben, ihm für immer dienen zu dürfen. Sogar jenen kantigen grünen Stein, der sich durch den Bund ihres Rockes in ihre Taille drückte. Sie hatte sich an seine Gegenwart gewöhnt, und manchmal vergaß sie
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