Jorina – Die Jade-Hexe
bin, um zu etwas nutze zu sein!«
»Gütige Mutter Gottes!« Am Rascheln der Kleider merkte Jorina, dass Maé sich bekreuzigte. »Du bist ja ein niedliches Ding, aber ich denk’ langsam, dass die Ereignisse in deinem Kopf etwas aus der Ordnung gebracht haben. Ich werd’ für dich beten! Ah, da bist du ja!«
Jorina unterdrückte im letzten Moment einen erschrockenen Aufschrei, als der Schatten vor ihnen auftauchte. Maés Sohn reichte ihr zwar nur bis zur Schulter, aber er war so kugelrund wie ein Vollmond auf zwei Beinen. In der Dunkelheit konnte sie schwer erkennen, ob er noch ein Kind war, aber die kräftige warme Hand, die nach der ihren griff und sie vorwärtszog, schien doch die eines Mannes zu sein.
»Gott mit dir!« rief Maé leise, während der Junge sie an den groben Stallmauern vorbei zum äußeren Festungsring der Burg schob.
Jorina sah über die Schulter und konnte schon nicht einmal mehr ihre Gestalt erkennen. Irgendwo im dunklen Hof vor ihnen lachten Männer, eine Magd kreischte, und eine Katze kreuzte fauchend ihren Weg. Eine Hand zerrte stumm an ihrem Umhang, und sie folgte gehorsam. Jeder Atemzug in dieser Burg war ein Atemzug zu viel.
20. Kapitel
Gütiger Himmel, ist sie tot?«
»Ein Mädchen, allein auf diesen Straßen! Was sind das nur für schlimme Zeiten!«
»Das arme Ding!«
»Es ist nicht bei Besinnung!«
Die Stimmen wisperten wie das Auf und Ab plätschernder Wellen an Jorinas Ohren vorbei. Sie vermochte sie weder zu unterscheiden noch ihnen zu antworten. In ihrem Kopf hämmerte es, und ihr ganzer Körper schmerzte so unendlich, dass ihre Knie irgendwann einfach den Dienst versagt hatten. Sie war in den feuchten Straßenstaub gestürzt und liegen geblieben. Warum ließ man sie nicht in Frieden?
»Armes Ding? Was redest du, Weib, das ist eine Dirne, die sich herumtreibt. Ein anständiges Mädchen ist nicht allein unterwegs!«
Der Mann klang aufgebracht, selbstgerecht und wütend. Jorina wollte gegen seinen Verdacht protestieren. Sie trieb sich nicht herum, sie musste nach Rennes. Dringend. Es gab dort etwas, das sie erledigen musste, das sie dorthin trieb, auch wenn ihr armer gepeinigter Kopf sich plötzlich nicht mehr erinnern konnte, was es war.
»Ihr müsst sie vor Euch auf den Sattel nehmen, mein Gemahl. Wir können sie schließlich nicht hier liegen lassen!«
»Das schmutzige Ding?« entrüstete sich derselbe Mann, der schon vorhin an ihrem Anstand gezweifelt hatte. »Was ist das nun wieder für ein närrischer Einfall!«
»Christliche Nächstenliebe ist das«, beharrte die Frau. »Euer Pferd ist stark genug, um dieses Fliegengewicht zusätzlich zu tragen, nun habt Euch nicht so! Ein paar gute Werke tun Eurem himmlischen Konto auch sehr gut!«
»Nächstenliebe, du übertreibst, Frau, ist dir das klar? Wo käme ich denn dahin, wenn ich jedes liederliche Ding vom Wegrand vor mir aufs Pferd nehmen würde! Ihr mit Eurem Hang zu unangebrachten Mildtätigkeiten!«
»Nun hört schon auf zu zetern, Maître Joseph. Seht die reinen Züge dieses Kindes an, so sieht wahrhaftig keine flatterhafte Kreatur aus. Wer weiß, welches Unglück es von zu Hause vertrieben hat. Ihr könnt immer erst dann ein Urteil fällen, wenn Ihr alles wisst«, gab die Frau dem mürrischen Herrn Bescheid. »Und nun genug der Diskussionen. Hebt das Kind dort hinauf und lasst uns weiterreiten. Ich hoffe doch, dass wir wenigstens heute eine halbwegs vernünftige Herberge erreichen!«
Jorina kam erst in dieser Herberge wieder halbwegs zu sich. Eine kleine Frau mit scharfen, mäuseartigen Gesichtszügen und einer imponierenden Spitzenhaube klopfte ihr so anhaltend auf die Wangen, dass sie mit einem Protestlaut die Augen aufschlug und sich vor der lästigen Hand in Sicherheit zu bringen suchte. Ihr armer Kopf drohte endgültig in Scherben zu zerspringen.
»So ist’s recht, Kindchen, wehr dich endlich.« Sie nickte so heftig, dass ihre Haube bedenklich ins Schwanken geriet. Sie begann Jorinas eisige Finger zwischen ihren warmen Händen zu reiben. »Ich hab’ schon Angst gehabt, du kommst gar nicht mehr zu dir!«
»Wo ...« Jorinas Hals schmerzte so entsetzlich, dass sie nicht mehr als diese eine Silbe heraus bekam.
»Schscht! Es ist alles gut. Du bist in der Herberge zum Steinernen Kreuz in Malestroit, Kleines!« wurde ihr geantwortet. »Wir haben dich am Wegrand gefunden, mein Gemahl und ich. Später kannst du mir erzählen, wie es dir ergangen ist. Im Augenblick bist du halb erfroren und vermutlich auch
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