Josefibichl
ihm entgegenkommend durch die engen, in den Wettersteingranit gebohrten Gänge schob, war sich Hartinger aus der Entfernung nicht sicher, ob das nicht ein Hiesiger war. Er duckte sich schnell nach rechts in eine der in den Fels geschlagenen Nischen, durch die man die tobende Partnach begutachten konnte. Der Mann ging an ihm vorbei und hatte ihn offenbar nicht gesehen. Hartinger zuckte zusammen. Für den Bruchteil eines Moments hatte er das Gesicht des Sportlers gesehen und war sich fast sicher, dass er den Mann kannte. Er brachte aber keinen Namen und keine Geschichte mit ihm in Verbindung.
Hartinger entspannte sich, während die Schritte des Bikers im nächsten Felstunnel verhallten. Er ging noch schneller durch die letzten zweihundert Meter der Klamm und hastete, an ihrem Ende angekommen, den steilen Weg durch den Wald nach Graseck hinauf. Er hoffte, dass ihm einhundert Höhenmeter weiter oben niemand begegnete, wo er zuerst auf das im Sommer gut besuchte Hotel Forsthaus Graseck stoßen würde, das zu Vordergraseck gehörte.
Zu seinem Ziel, dem Mittererhof, waren es nur noch wenige Hundert Meter auf dem Wanderweg, der an Vordergraseck vorbei über Mittergraseck nach Hintergraseck führte. Der Mittererhof lag unterhalb des Weges allein zwischen den drei Weilern.
In Hartingers Bauch wühlte neben Hunger ein riesiges schlechtes Gewissen. Er nahm sich ein Herz und pochte an die Tür, deren Schwelle er seit über zehn Jahren nicht mehr übertreten hatte.
»Was willst?«
Die Mitterer Kathi schaute den Hartinger durch das kleine Fenster in der Tür an. Ein kurzes anfängliches Staunen war über ihr immer noch hübsches Gesicht gehuscht, in dem Hartinger eine Spur Freude zu erkennen sich einbildete. Dann aber blieben ihre Züge reglos.
»Eine Dusche.« Und nachdem keine Ablehnung kam: »Ein Bett.«
»Kannst haben. Aber nicht für lang. Und sonst?«
»Mei, Kathi, es tut mir leid, dass ich hier so plötzlich aufkreuzen muss . . .«
»Und was sonst?«
»Deinen Onkel Albert.«
»Der ist unten im Tal, wo du gerade herkommst. Ich glaub nicht, dass der was mit dir zu tun haben möcht.«
»Ich will nur einmal mit ihm telefonieren. Ich muss ihm was erzählen. Wenn er‘s nicht hören will, dann lass ich ihn in Ruh, versprochen.«
Kathi drückte die Tür auf und ließ Hartinger in den niedrigen Flur eintreten. Er ging direkt in die Wohnküche links vom Eingang und schaute sich mit großen Augen um. »Hammer. Wie früher. Wie wenn zehn Jahre spurlos Vorbeigehen.«
»Bloß, dass die an uns nicht spurlos Vorbeigehen.« Kathi musterte ihn von Kopf bis Fuß.
»Kathi, ich würde dich nicht bitten, mir zu helfen, wenn‘s nicht wirklich brennen würd. Wenn sie mich kriegen, sperren sie mich weg. Für immer.«
»Weggesperrt sein, das kenn ich.«
»Du? Du hast doch hier ein freies Leben mitten in der Natur.«
»Dass ich nicht lache, Karl-Heinz. Du weißt ganz genau, dass du mich hier festgekettet hast bis an mein Lebensende mit dem Kind.«
»Kathi, jetzt streiten wir uns nicht wieder darüber. Willst mir helfen oder nicht? Bitte ruf deinen Onkel Albert an und sag ihm, dass ich ihn sehen muss. Heute noch. Bitte ihn, hierherauf zu kommen.«
»Meinst, dass der wegen dir da raufkommt?«
Kathi zog die Augenbrauen verächtlich nach oben.
»Wegen mir eher nicht.« Hartinger zog das Notebook Pater Engelberts aus der Tasche und legte es auf den blank geschrubbten Küchentisch. »Aber vielleicht deswegen. Gehörte dem toten Mönch.«
Kathi resignierte. »O mein Gott, Hartinger, was mach ich mit dir alles mit.« Sie nahm das alte Wählscheibentelefon vom Küchenbuffet. »Is‘ eh schon wurscht. Jetzt hock dich endlich hin. Oder geh am besten erst mal duschen. Dein Sohn wird überrascht sein, wenn er dich hier oben sieht. Der braucht dich ja nicht schon vom Forsthaus aus zu riechen, wenn er vom Fußballtraining heimkommt.«
»Wär besser, wenn mich hier gar keiner sieht, auch der Bub nicht.«
»Wunderbar. Wird immer besser. Kümmerst dich um dein Kind nur einmal im Jahr in den Sommerferien, und auch nur dann, wenn keine wichtigen Termine entgegenstehen, und jetzt bist einmal da und willst dich vor ihm verstecken?«
»Ich muss, Kathi. Die dürfen mich nicht kriegen. Du hast ja sicher die Zeitung gelesen. War noch keiner da von der Polizei?«
»Nein, aber das weiß ja auch keiner, dass der Anton von dir ist. Außer vielleicht jemand vom Einwohnermeldeamt. Und warum sollten die da nachschauen, unter meinem Namen? Und sonst weiß
Weitere Kostenlose Bücher