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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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Vormarsch auf. Eine halbe Stunde zuvor, im Supermarkt, wird er noch nicht daran gedacht haben, ein Held zu sein. Das Heldentum überkam ihn ungewollt. Dies geschah am 5. Juni 1989, dem dritten Tag des Massakers; er musste also gewusst haben, in welcher Gefahr er schwebte. Und doch blieb er stehen, bis andere Zivilisten ihn beiseitezogen. Es heißt, man habe ihn danach abgeführt und erschossen. Die Zahl der Toten von Tian’anmen wurde nie veröffentlicht und ist nicht bekannt. In Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez massakriert die Bananenfirma – geführt von Mr Brown, ein Name, der eher in einen Tarantino-Film passt – auf dem Marktplatz von Macondo dreitausend streikende Arbeiter. Nach dem Gemetzel gibt es eine Säuberungsaktion, die so perfekt durchgeführt wird, dass man das Vorgefallene danach schlicht leugnen konnte. Es hat nie stattgefunden, nur in der Erinnerung von José Arcadio Segundo, der alles sah. Erinnerung ist die einzige Verteidigung gegen brutale Schonungslosigkeit. Dass die Erinnerung ihr Feind ist, wusste auch die chinesische Führung. Es reichte nicht, die Protestierenden umzubringen. Man sollte sich ihrer fälschlich als Abweichler und Verbrecher erinnern, nicht als tapferer Studenten, die ihr Leben für die Freiheit ließen. Die chinesischen Behörden gaben sich mit dieser falschen Version der Vergangenheit größte Mühe; und schließlich griff sie um sich. Das Jahr, das mit dem kleinen Schrecken der Fatwa begann, brachte größeren Schrecken, vor dem das Entsetzen in den kommenden Jahren noch wachsen sollte, da der Sieg über die Erinnerung den nutzlosen Toden der Demonstranten hinzugefügt wurde.
    *
    Es wurde Zeit, Porlock Weir zu verlassen. Die Polizei hatte für ihn ein Haus gefunden, das er mieten konnte, wieder in Brecon, diesmal in einem Dorf namens Talybont. Maggie Drabble und Michael Holroyd kamen, um ihr Haus erneut in Besitz zu nehmen und Maggies fünfzigsten Geburtstag zu feiern. Marianne fuhr nicht mit nach Talybont; sie flog nach Amerika. Lara machte ihren Abschluss in Dartmouth, und natürlich wollte sie bei ihr sein. Ihre Abreise bedeutete für sie beide eine Erleichterung. Er sah Marianne an, dass sie die Grenzen ihrer Toleranz erreicht hatte, der Blick irrer als gewöhnlich, Anspannung troff ihr aus jeder Pore wie Schweiß von einem Marathonläufer. Sie brauchte eine Pause, vielleicht einen Ausweg. Er konnte das verstehen. Mit dem hier hatte sie nicht gerechnet; es war nicht ihr Kampf. Das Klischee Halte zu deinem Mann verlangte, dass sie blieb, obwohl alles in ihr schrie: Geh . Womöglich wäre es anders gewesen, wenn sie sich stärker geliebt hätten, aber sie hielt zu einem Mann, mit dem sie nicht glücklich war. Ja, natürlich musste sie am Tag der Abschlussfeier bei ihrer Tochter sein.
    Für die beiden Paare war es ein seltsamer Abend, halb geprägt von Maggies Fünfzigstem, halb vom Schock der Geschichte. Michael erzählte lustige Anekdoten aus seiner ungewöhnlichen Kindheit – seine Mutter, die sich der Hilfe ihres Sohnes bediente, um ihre vielen Gatten loszuwerden, und immerhin ein Ehemann, der ihn bat, jenen Komm-zurück-Brief zu schreiben, der sie überreden mochte, bei ihm zu bleiben. Die Nachrichten gingen ihnen nicht aus dem Kopf, Tian’anmen war auf ihren Lippen. Und plötzlich starb Ayatollah Khomeini und wurde durch die Straßen Teherans zu Grabe getragen. In einem angrenzenden Zimmer riss die Polizei Polizeiwitze. Heute ist POETS -Tag: Piss Off Early, Tomorrow’s Saturday. Oder etwas philosophischer: Das Leben ist ein Scheißsandwich. Je mehr Brot man hat, umso weniger Scheiße muss man essen. Die beiden Paare aber sahen Szenen, die sich weit fort abspielten; die ungeheure Menge, die um die Totenbahre brandete, das unkontrollierbare Wogen und Toben dieses vielköpfigen Ungeheuers, dann die kippende Trage, das zerrissene Leichentuch und plötzlich, für alle sichtbar, der gebrechliche weiße Fuß des Toten. Noch während er zuschaute, wusste er, dass dies etwas war, was er nicht verstand. Es genügte nicht, zu wissen, dass solche Mengen mit Bussen und Lastern herangekarrt oder dafür bezahlt wurden, exaltiert zu trauern, oder dass sich viele dort in einem tranceähnlichen Delirium befanden, wie man es von ekstatischen Schiiten kennt, die sich am Tag Ashura, dem zehnten Muharram, geißeln und verletzen zur Erinnerung an Hussain ibn-Ali, den Enkel des Propheten, der in der Schlacht von Kerbela im Jahre 680 den Tod fand. Es genügte

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