Joseph Anton
zahlreichen bekannten deutschen Parlamentariern begrüßt; und weil der Außenminister Klaus Kinkel gerade im Ausland weilte, wurde er auch noch vom Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, Dr. Schirmer, empfangen. Der iranische Botschafter wetterte im deut schen Fernsehen, Deutschland wollte seine Beziehungen zum Iran doch gewiss nicht wegen dieses Mannes aufs Spiel setzen. Vielleicht seien sogar amerikanische oder israelische Killer auf ihn angesetzt, die sich als muslimische Attentäter ausgäben, um den Iran schlecht dastehen zu lassen.
Am nächsten Tag wurde Botschafter Hossein Mousavian ins Auswärtige Amt zitiert. »Wir werden Mr Rushdie beschützen«, sagte der stellvertretende Außenminister. »Nach unserer sehr deutlichen Aus sprache ist er [der iranische Botschafter] darüber im Bilde.« Die Be hauptung eines geplanten Mordes durch den amerikanischen oder israelischen Geheimdienst wurde als ›absurd‹ bezeichnet. Botschafter Mousavian sagte, man habe ihn ›falsch zitiert‹.
Die Stoßkraft , wie Frances sich ausgedrückt hatte, war also da; aber hatte man die kritische Masse (einer ihrer Lieblingsausdrücke) erreicht? Noch nicht. Der Rat der Moscheen in Bradford ließ sich abermals zu einer üblen Stellungnahme hinreißen und behauptete, diese Kampagne mache alles nur noch schlimmer, der Autor habe von der muslimischen Gemeinschaft keinerlei ›Gnade‹ zu erwarten. Der Ratsvorsitzende Liaquat Hussein hielt sich allen Ernstes für einen bedeutenden Mann, der Bedeutsames von sich gab. Seine fünfzehn Minuten Ruhm waren vorüber.
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Er reiste nach Stockholm, um den Kurt-Tucholsky-Preis für verfolgte Schriftsteller entgegenzunehmen und vor der Schwedischen Akademie zu sprechen. Der Iran verurteilte den Preis natürlich. Irans Oberster Richter ließ ebenso von sich hören wie der gute Ayatollah Sanei. Lieber Oberster Richter , hob er an, doch dann verwarf er seinen imaginären Brief. Manche Menschen verdienten keinen Brief, nicht einmal einen imaginären. Mein lieber Kopfgeld-Sanei, darf ich Dich darauf aufmerksam machen, dass es auf Deiner Bounty zu einer Meuterei kommen könnte? Du und Deine Kameraden, vielleicht landet ihr wie William Bligh in einer Nussschale und haltet verzweifelt nach der Insel Timor Ausschau.
Die Schwedische Akademie versammelte sich in einem wunderschönen Rokokosaal im Obergeschoss der alten Stockholmer Börse. Um einen langen Tisch herum standen neunzehn mit hellblauer Seide bezogene Stühle. Einer war dem König vorbehalten, sollte er denn erscheinen; kam er nicht, und das war meistens der Fall, blieb der Stuhl leer. Sämtliche Stühle waren rückseitig von I bis XVIII durchnummeriert. Starb ein Mitglied, wurde ein neues gewählt, um dessen Platz einzunehmen, bis es ebenfalls zur großen Himmelsakademie berufen wurde. Er musste an G. K. Chestertons spannenden Krimi Der Mann, der Donnerstag war denken, in dem es um eine anarchistische Zelle ging, deren sieben Anführer die Namen der Wochentage als Decknamen trugen. Um Anarchisten handelte es sich hier allerdings nicht. Man hatte ihm gewährt, das Allerheiligste der Literatur zu betreten, den Raum, in dem die Nobelpreise vergeben wurden, um zu einer wohlwollenden Runde grauer Eminenzen zu sprechen. Lars Gyllensten ( XIV ) und Kerstin Ekman ( XV ), die diesen Tisch verlassen hatten, um gegen die duckmäuserische Sprachlosigkeit ihrer Kollegen angesichts der Fatwazu protestieren, blieben fern. Ihre leeren Stühle waren ein stummer Tadel. Das stimmte ihn traurig; er hatte gehofft, eine Versöhnung herbeiführen zu können. Die Einladung der Akademie sollte eine Wiedergutmachung für ihr Schweigen sein. Dass er hier war, war ein Beleg für ihre Unterstützung. Ein zwanzigster, unnummerierter Stuhl wurde neben den leeren Platz des Königs gestellt, und er setzte sich, redete und beantwortete Fragen, bis die Akademiemitglieder zufrieden waren. Elizabeth, Frances und Carmel hatten auf Stühlen längs der Wand Platz genommen und durften zusehen.
Bei allen Anschuldigungen und Schmähungen im Streit um Die satanischen Verse , sagte er, gehe es nur um eine entscheidende Frage: Wer darf über die Geschichte verfügen? Wem steht es zu oder wem sollte es zustehen, die Geschichten, mit und in denen wir leben, nicht nur zu erzählen, sondern auch festzulegen, wie sie erzählt werden dürfen? Schließlich lebt jeder durch oder in Geschichten, den großen Meta-Erzählungen. Die Nation war eine Geschichte, die Familie war eine und die
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