Joseph Anton
Religion ebenfalls. Als kreativer Künstler wusste er, dass die einzige Antwort auf diese Frage lautete: Allen und jedem steht dies zu oder sollte dies zustehen. Wir alle sollten uns der Meta-Erzählungen bedienen dürfen, sie beanspruchen, hinterfragen, karikieren und darauf bestehen dürfen, dass sie sich wandeln, um den Wandel der Zeit widerzuspiegeln. Wir sollten so ehrfürchtig, respektlos, leidenschaftlich oder sarkastisch mit ihnen umgehen dürfen, wie es uns beliebt. Als Mitglieder einer offenen Gesellschaft war das unser Recht. Unsere Fähigkeit, die Geschichte unserer Kultur neu zu erzählen und zu erschaffen, war der beste Beweis dafür, dass unsere Gesellschaft tatsächlich frei war. In einer freien Gesellschaft riss die Debatte über die Meta-Erzählungen nie ab. Auf die Debatte kam es an. Sie bedeutete Freiheit. In einer geschlossenen Gesellschaft hingegen versuchten die politischen oder ideologischen Machthaber, solche Debatten zu ersticken. Wir erzählen euch die Geschichte, sagten sie, und auch, was sie bedeutet. Wir erzählen euch, wie die Geschichte erzählt werden muss, und verbieten euch, sie anders zu erzählen. Wenn euch unsere Art der Erzählung nicht gefällt, seid ihr Staatsfeinde oder Glaubensverräter. Ihr habt keine Rechte. Wehe euch! Wir werden euch kriegen und euch für eure Weigerung bezahlen lassen.
Das Geschichten erzählende Tier muss die Freiheit haben, seine Geschichten zu erzählen.
Am Ende des Treffens erhielt er ein Geschenk. Dem Gebäude gegenüber lag das bekannte Restaurant Den Gyldene Freden (Der goldene Frieden), das der Akademie gehörte. Nach jedem wöchentlichen Treffen zogen sich die anwesenden Mitglieder zum Abendessen in ein Hinterzimmer des Restaurants zurück. Zuvor zahlte jeder mit einer Silbermünze, die das Motto der Akademie trug, Snille och smak. Geist und Geschmack. Beim Verlassen des Restaurants erhielten sie ihre Münzen zurück. Kein Außenstehender bekam je eine solche Münze, doch als er die Akademie an jenem Tag verließ, trug er eine davon in der Tasche.
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In New York erwarteten ihn diesmal keine Wagenkolonne und kein Lieutenant Bob, der befürchtete, Elizabeth könnte mit einer Gabel Dummheiten machen. (Er war mit Scandinavian Airlines geflogen und hatte die lange Route über Oslo genommen.) Sicherheitsleute schleusten ihn durch den Flughafen und das war’s. Es standen keinerlei öffentliche Auftritte an, und so war die amerikanische Polizei bereit, ihn möglichst sich selbst zu überlassen und ihm ein paar Tage Freiheit oder das, was dem in diesen fast vier Jahren am Nächsten kam, zu erlauben. Er wohnte in Andrew Wylies Wohnung, und die NYPD blieb unten in ihren Wagen. In diesen Tagen versöhnte er sich mit Sonny Mehta. Und er aß mit Thomas Pynchon zu Abend.
Eine von Andrews besten Eigenschaften war, dass er kein Zerwürfnis ertrug. »Du und Sonny solltet euch wieder zusammenraufen«, meinte er. »Ihr wart so lange befreundet. Es muss einfach sein.« Und es gab gute geschäftliche Gründe, den Ölzweig zu reichen. Langfristig kam Random House am ehesten als Verleger der Taschenbuchausgabe von Die satanischen Verse in Frage. Penguin würde es nicht tun, und da der Vertrieb von Granta Books über Penguin lief, sah es Bills außerordentlicher Freundschaft und Couragiertheit zum Trotz mit einer dauerhaften Beziehung schwierig aus. »Wir dürfen das Ziel nicht aus den Augen verlieren«, sagte Andrew, »und das Ziel ist die ganz normale Publikation all deiner Bücher, die Verse inklusive.« Jetzt, da die Taschenbuchhürde durch das Konsortium genommen worden sei, wäre es möglich, Sonny die Angst vor neuen Titeln zu nehmen und ihm eine langfristig betreute Backlist schmackhaft zu machen. »Nicht sofort«, sagte Andrew, »aber vielleicht nach der Veröffentlichung deines nächsten Romans. Ich bin sicher, die machen das, und sollte es auch sein.« Er und Gillon hatten bereits einen Vertrag mit Sonny und Knopf für Des Mauren letzter Seufzer ausgehandelt und auch Bill beschwichtigt, der ziemlich außer sich gewesen war, als er von ihrem Plan erfuhr. Doch Bill war zuallererst Freund und dann Verleger und großherzig genug, um Andrews Argumente zu verstehen. Er hatte Harun vor Sonny gerettet und willigte nun ein, ihm den Mauren ohne Groll zu überlassen.
Ehe der Vertrag unterschrieben werden konnte, mussten Sonny und er das Kriegsbeil begraben, was der eigentliche Grund für seine New-York-Reise war. Andrew kontaktierte auch Pynchons Agentin und
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