Joseph Anton
später sein zweiter Sohn Milan auf die Welt kommen und sich dieses Datum im Guten aneignen sollte, doch am 27. Mai 1993 trat ein ganz anderes Individuum in Erscheinung: der türkische Autor, Zeitungsverleger und Provokateur Aziz Nesin.
Er hatte ihn nur einmal vor sieben Jahren getroffen, als Nesin seinerseits in Schwierigkeiten steckte. Harold Pinter hatte eine Gruppe Schriftsteller in sein Haus am Campden Hill Square eingeladen, um einen Protest zu organisieren, weil Nesin erfahren hatte, dass die Türkei seinen Pass beschlagnahmen wollte. Er fragte sich, ob Nesin noch wusste, dass der Autor von Die satanischen Verse den Protest bereitwillig unterschrieben hatte, doch er bezweifelte es. Am 27. Mai kam ihm zu Ohren, dass nicht näher spezifizierte Auszüge aus Die satanischen Verse ohne seine Genehmigung und in einer türkischen Übersetzung, die weder er noch seine Agentur zu Gesicht bekommen hatten (es ist üblich, eine Übersetzung auf Qualität und Richtigkeit zu prüfen, ehe sie veröffentlicht wird), in der linken Tageszeitung Aydinlik, dessen Chefredakteur Nesin war, abgedruckt worden waren, um das Verbot des Buches in der Türkei zu provozieren. Die Überschrift über den Auszügen lautete: SALMAN RUSHDIE : DENKER ODER SCHARLATAN ? In den Tagen darauf folgten weitere Auszüge, und Nesins Kommentar dazu ließ keinen Zweifel daran, dass er ganz klar auf der ›Scharlatan‹-Seite stand. Die Agentur Wylie schrieb Nesin, Piraterie sei Piraterie, und ob er, der behauptete, jahrelang für die Rechte von Schriftstellern eingetreten zu sein, vielleicht gegen Ayatollah Khomeinis Verletzung dieser Rechte protestieren wolle? Nesins Antwort war denkbar bockig. Er druckte den Brief der Agentur mit dem Kommentar ab: »Was geht mich der Fall Salman Rushdie an?« Er sagte, er habe die Absicht, mit der Veröffentlichung fortzufahren, und wenn Rushdie etwas dagegen habe, »soll er uns doch verklagen«.
Aydinlik wurde schikaniert, die Angestellten verhaftet, der Vertrieb gestoppt und die Auflagen beschlagnahmt. In einer Istanbuler Moschee rief ein Imam den Dschihad gegen die Zeitung aus. In Verteidigung säkularer Prinzipien verfügte die türkische Regierung, dass das Blatt ausgeliefert werden müsse, doch die Kontroverse ging weiter, und die Stimmung blieb vergiftet.
Wieder einmal hatte er das Gefühl, dass er und seine Arbeit zum Faustpfand in einem fremden Spiel geworden waren. Sein Freund, der türkische Schriftsteller Murat Belge, sagte, Nesin sei ›kindisch‹ gewesen, dennoch dürfe man die Angriffe gegen ihn nicht zulassen. Das Schmerzlichste daran war, dass er ebenfalls bekennender Säkularist war und von türkischen Säkularisten eine bessere Behandlung erwartet hätte. Ein Zerwürfnis im säkularistischen Lager konnte den Gegnern nur zupass kommen. Die feindlichen Reaktionen auf die Auszüge in Aydinlik ließen nicht auf sich warten und fielen äußerst heftig aus.
Anfang Juli reiste Nesin zu einer Konferenz zum Thema Säkularismus in die anatolische Stadt Sivas (in Anatolien hatte der extreme Islamismus besonders viele Anhänger). Eine Statue zu Ehren des türkischen Dichters Pir Sultan Abdal wurde enthüllt, der im sechzehnten Jahrhundert wegen Blasphemie gesteinigt worden war. Es hieß, in seiner Rede habe Nesin seinen Atheismus bekundet und Kritik am Koran geübt. Das konnte stimmen oder auch nicht. In der Nacht war das Madimak-Hotel, in dem die Delegierten untergebracht waren, von grölenden Extremisten umlagert, die das Gebäude in Brand steckten. Siebenunddreißig Menschen starben – Schriftsteller, Karikaturisten, Schauspieler und Tänzer. Aziz Nesin wurde von Feuerwehrleuten, die ihn nicht erkannten, aus den Flammen gerettet. Als ihnen klar wurde, wen sie vor sich hatten, schlugen sie ihn, und ein Kommunalpolitiker brüllte: »Das ist der Teufel, den wir eigentlich hätten töten sollen!«
In der Weltpresse wurde die entsetzliche Tragödie von Sivas als ›Rushdie-Revolte‹ bezeichnet. Er trat im Fernsehen auf, um die Mörder zu verurteilen, und schrieb wütende Artikel für The Observer in London und The New York Times . Es war nicht fair, dass der Aufruhr nach ihm benannt war, doch darum ging es nicht. Die Tötungen von Faradsch Fouda, U ˘ g ur Mumcu, Tahar Djaout und den Menschen in Sivas waren der schlagende Beweis, dass die Angriffe auf Die satanischen Verse keine Einzelfälle, sondern Teil eines globalen islamischen Angriffes auf Freidenker waren. Er tat alles ihm Mögliche, um die
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