Joseph Anton
natürlich ging das Leben weiter. Eines war klarer denn je: Er musste sich seine Freiheit nehmen, wo es ging. Ein ›offizielles‹ Ende schien nicht mehr möglich, doch Amerika lockte mit einer abermaligen Sommerpause. Dass die amerikanische Polizei sich um seinen Schutz wenig scherte, war in Ordnung, es war sogar ein Segen. In dem Jahr konnten Elizabeth, Zafar und er fünfundzwanzig glückliche Sommertage in amerikanischer Freiheit genießen. Zafar und Elizabeth nahmen den direkten Flug; er profitierte von Rudolf Scholtens freundschaftlichen Kontakten zu Austrian Airlines, um über Wien nach JFK zu fliegen: ein sehr langer Weg, aber was sollte es, er war da! Und Andrew war da! Sie fuhren direkt nach Water Mill und verbrachten neun wunderbare Tage am Gibson Beach und bei Freunden, taten alles und nichts. Die Leichtigkeit dieses Lebens – im Gegensatz zu seinem eingeschränkten britischen Leben – trieb ihm die Tränen in die Augen. Und nach Water Mill reisten sie mit Auto und Fähre nach Martha’s Vineyard, wo sie acht Tage bei Doris Lockhart Saatchi in ihrem Haus in Chilmark verbringen würden. Die eindrücklichste Erinnerung dieser Reise würden William Styrons Genitalien bleiben. Als er die Styrons zusammen mit Elizabeth in ihrem Haus in Vineyard Haven besuchte, saß der große Erzähler in Khakishorts und ohne Unterhosen breitbeinig auf seiner Veranda und gab einen ungehinderten Blick auf seine Juwelen frei. Das war mehr, als er vom Autor von Die Bekenntnisse des Nat Turner und Sophies Entscheidung jemals zu erfahren gehofft hatte, doch jede Information war nützlich, und so speicherte er diesen Eindruck sorgsam für spätere Verwendung ab.
Es folgten drei Nächte bei den Irvings, drei bei den Herrs und drei weitere in der Wylie-Wohnung in der Park Avenue. An ihrem letzten Abend bekam Zafar seine – glücklicherweise guten – Abschlussergebnisse. In den darauffolgenden Jahren fragte er sich häufig, wie er ohne diese jährlichen amerikanischen Rettungsventil-Reisen überlebt hätte, während deren sie so tun konnten, als wären sie normale Literaturschaffende, die ohne einen Tross bewaffneter Männer normale Dinge taten, und das ganz mühelos. Ziemlich schnell wurde ihm klar, dass, wenn der Tag käme, Amerika es ihm am leichtesten machen würde, seine Freiheit zurückzufordern. Als er es Elizabeth sagte, runzelte sie gereizt die Stirn.
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In der Finsternis, die dem Zusammenbruch der französischen Initiative folgte, glomm ein unerwarteter Lichtstrahl auf. Lufthansa hatte dem öffentlichen Druck nachgegeben. Es gab ein Mittagessen mit Herrn und Frau Lufthansa, dem Vorstandsvorsitzenden Jürgen Weber nebst Gattin . Es stellte sich heraus, dass Frau Weber ein großer Fan von ihm war oder es zumindest behauptete. Und ja, sie seien hocherfreut , ihn zu fliegen, sagte ihr Mann. Sie seien stolz darauf. So einfach war das. Nach über sechs Jahren der Verweigerung – puff! – freuten sie sich, ihn jederzeit an Bord ihrer Maschinen begrüßen zu dürfen. Sie bewunderten ihn so sehr. »Danke«, sagte er und alle sahen hochzufrieden aus, und natürlich gab es eine Menge Bücher, die signiert werden mussten.
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Die BBC machte einen Dokumentarfilm über Des Mauren letzter Seufzer und beauftragte seinen Freund, den indischen Maler Bhupen Khakhar, sein Porträt für den Film zu malen. Es war ein Roman über Maler und das Malen, und seine Freundschaften mit einer Generation begabter indischer Künstler – vor allem mit Bhupen – hatten ihm die Inspiration dazu gegeben. Anfang der Achtziger waren sie sich das erste Mal begegnet, hatten sich sofort im anderen wiedererkannt und waren bald Freunde geworden. Kurz nach ihrer ersten Begegnung besuchte er Bhupens Ausstellung in der Londoner Galerie Kasmin Knoedler. Er hatte einen Scheck für eine Geschichte in der Tasche, die er gerade an The Atlantic Monthly verkauft hatte. Auf der Ausstellung verliebte er sich in Bhupens Zweite-Klasse-Abteil, und als er feststellte, dass auf dem Preisschild exakt die gleiche Summe stand wie auf dem Scheck in seiner Tasche (damals war indische Kunst noch erschwinglich), hatte er seine Geschichte beglückt in das Bild seines Freundes verwandelt, das seitdem zu seinen liebsten Kostbarkeiten zählte. Für zeitgenössische indische Künstler war es schwer, sich dem Einfluss des Westens zu entziehen (eine Generation zuvor waren M. F. Husains berühmte Pferde direkt aus Picassos Guernica herausgaloppiert, und die Werke zahlreicher anderer großer
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