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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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Namen – Souza, Raza, Gaitonde – hatten sich für seinen Geschmack zu sehr der Moderne und westlichen abstrakten Strömungen verschrieben). Einen indischen Duktus zu finden, der weder folkloristisch noch entliehen war, war nicht leicht gewesen und Bhupen hatte es als einer der Ersten geschafft, hatte sich vom visuellen Umfeld der indischen Straßenkunst, der Filmplakate, der bemalten Ladenfassaden und der figurativen und erzählerischen Traditionen der indischen Malerei inspirieren lassen und all das in ein eigenwilliges, originelles und geistreiches Œvre verwandelt.
    Den Kern von Des Mauren letzter Seufzer bildete die Idee des Palimpsests: ein unter einem anderen Bild verborgenes Bild, eine hinter einer anderen Welt versteckte Welt. Bevor er geboren war, hatten seine Eltern einen jungen Maler aus Bombay beauftragt, sein zukünftiges Kinderzimmer mit Märchenfiguren und Zeichentricktieren auszumalen, und der verarmte Künstler Krishen Khanna hatte den Auftrag angenommen. Er hatte auch ein Porträt von Negin, der wunderschönen jungen Mutter des ungeborenen Salman angefertigt, doch ihr Mann mochte es nicht und wollte es nicht kaufen. Khanna stellte das abgelehnte Gemälde im Atelier seines Freundes Husain unter, und eines Tages übermalte Husain es mit einem eigenen Bild und verkaufte es. Und so hing irgendwo in Bombay ein Porträt von Negin Rushdie, gemalt von Krishen, der bekanntlich einer der bedeutendsten Künstler seiner Generation werden sollte, verborgen unter einem Bild von Husain. »Husain weiß von jedem seiner Bilder, wo es geblieben ist, doch er will es nicht verraten«, sagte Krishen. Die BBC versuchte es aus ihm herauszukriegen, doch der alte Mann stieß ärgerlich seinen Stock auf den Boden und sagte, die Geschichte sei nicht wahr. »Natürlich ist sie wahr«, sagte Krishen. »Er hat nur Angst, dass du sein Bild kaputt machen willst, um das Porträt deiner Mutter freizulegen, und er ist beleidigt, dass du nach meinem Bild suchst und nicht nach seinem.« Er kam zu dem Schluss, dass ein verschollenes Porträt seiner Mutter stimmiger war als ein aufgefundenes – verschollen war es ein wunderschönes Rätsel; hätte man es gefunden, hätte man vielleicht festgestellt, dass Anis Rushdies künstlerisches Urteil richtig gewesen war und der damalige Malerschüler Khanna keine besonders gute Arbeit geleistet hatte – er blies die Suche ab.
    Während er in einem Atelier in Edwardes Square, Kensington, für Bhupen Modell saß, erzählte er ihm die Geschichte des verlorenen Bildes. Bhupen kicherte begeistert und arbeitete vor sich hin. Im Stil der indischen Hofmalerei wurde sein Porträt im Profil gemalt, und als guter Nawab trug er ein durchsichtiges Hemd, das auf dem Bild allerdings mehr nach Nylon als nach reiner Baumwolle aussah. Zuerst fertigte Bhupen mühelos und in einem Strich eine Profilzeichnung in Kohle an, die ihrem Vorbild aufs Haar glich. Das Gemälde, das diesen Kohlestrich überdeckte, ähnelte dann mehr der Romanfigur des Moor Zogoiby. »Es ist ein Bild von euch beiden«, sagte Bhupen. »Du als Moor und der Moor als du.« Somit war auch in diesem Porträt ein Porträt verborgen.
    Irgendwann erwarb die National Portrait Gallery das Gemälde, und Bhupen war der erste indische Künstler, der dort ein Bild hängen hatte. Bhupen starb am 8. August 2003, am selben Tag wie Negin Rushdie. Die Koinzidenz ließ sich nicht verleugnen, auch wenn nicht klar war, was diese Gleichzeitigkeit bedeuten sollte. Am selben Tag hatte er einen Freund und seine Mutter verloren. Das war bedeutsam genug.
    *
    Der Roman war erschienen, und er dehnte seine Grenzen immer weiter. Im Writer’s Forum der Times in der Westminster Central Hall fand sein bisher größter vorangekündigter Auftritt statt, zusammen mit Martin Amis, Fay Weldon und Melvyn Bragg. Er las eine Passage aus Des Mauren letzter Seufzer und dankte dem Publikum, zu seiner ›kleinen Coming-Out-Party‹ gekommen zu sein. Ja, es waren Sicherheitsleute da und, ja, natürlich musste er durch die Hintertür rein- und wieder rausgehen und in einen gepanzerten Wagen steigen, doch er publizierte sein Buch. Und nein, es gab keine Demonstrationen, und die hohen Tiere im Yard fingen endlich an, sich zu entspannen.
    Er hatte einen sehr gewagten Plan. Seine südamerikanischen Verleger hatten angefragt, ob er im Dezember nach Chile, Mexiko und Argentinien kommen könne, und er beschloss, zuzusagen und anschließend nach Neuseeland und Australien weiterzureisen. Es

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