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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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Wachschutz war so ungewöhnlich, so seltsam und aufregend, dass sie sich kaum an etwas anderes erinnern konnten. Wenn er sie nach ihren Erinnerungen aus jenen Tagen fragte, redeten sie von den Polizisten – Erinnerst du dich an den, der unser Kindermädchen verführt hat? Erinnerst du dich an die beiden echt gut aussehenden Typen, alle waren in die verknallt –, sie erinnerten sich an zugezogene Vorhänge und verschlossene Gartentore. Selbst in den Augen seiner Freunde wurde er zur Nebensache, und die Polizisten wurden zur Hauptattraktion. Doch wenn er sich jene Tage ins Gedächtnis rief, waren die Polizisten oft nicht da. Natürlich waren sie da gewesen, doch seine Erinnerung hatte beschlossen, sie auszuradieren.
    Manchmal versagte dieser kleine Gedächtnistrick. Auf den Schnappschüssen von seiner Südamerikareise standen die chilenischen Polizisten stets im Fokus: furchteinflößend, unvergesslich, laut.
    Schnappschuss aus Chile . Es gab zwei verschiedene Polizeieinheiten, die uniformierten Carabineros und die Policía de Investigaciones in Zivil, und während er und Elizabeth im Flugzeug nach Santiago saßen, stritten die beiden staatlichen Organe, ob sie ihn ins Land lassen sollten oder nicht. Eigentlich sollte er bei einer Buchmesse auftreten, doch als sie an einem flirrend heißen, stickigen Tag aus dem Flugzeug stiegen, wurden sie von uniformierten Beamten umringt und unter lautem spanischem Gebrüll in eine stickige Baracke am hintersten Ende des Rollfelds bugsiert. Die Pässe wurden ihnen abgenommen. Es gab niemanden, der dolmetschen konnte, und als er versuchte zu fragen, was los sei, brüllte man ihn an und gab ihm mit unmissverständlichen Gesten zu verstehen, er solle zurücktreten und die Klappe halten. Willkommen in Südamerika , dachte er, während ihm der Schweiß in die Schuhe rann.
    1993 war Augusto Pinochet zwar nicht mehr Präsident, aber immer noch Oberbefehlshaber des Heeres, und selbst während seines Niederganges hielt sich der Glaube an seine Macht und seinen unverminderten Einfluss. In Pinochets Chile waren die Sicherheitskräfte allmächtig. In diesem Fall allerdings balgten sich die beiden Polizeieinheiten wie die Köter, und er war der Knochen. Er musste an die Passage in Ryszard Kap u ´ sc i ´ nskis König der Könige denken, in dem Kap u ´ sc i ´ nski die beiden nebeneinander existierenden Geheimdienste Haile Selassies beschreibt, deren Hauptaufgabe darin besteht, sich gegenseitig auszuspionieren. Weniger amüsant war der Gedanke, dass verschwundene und auf unerklärliche Weise zu Tode gekommene Menschen in Chile bis vor kurzem an der Tagesordnung gewesen waren. Ließ man sie womöglich gerade verschwinden?
    Nachdem man sie rund zwei Stunden in der Baracke festgehalten hatte, wurden sie zu einer als Hotel deklarierten Polizeieinrichtung gebracht. Es war kein Hotel. Ihre Zimmertür ließ sich von innen nicht öffnen. Bewaffnete Wachen standen davor. Immer wieder bat er darum, die Pässe wiederzubekommen, seinen Verleger anzurufen, mit dem englischen Botschafter zu sprechen. Die Wachen zuckten die Schultern. Sie sprachen kein Englisch. Weitere Stunden verstrichen. Es gab nichts zu essen oder zu trinken.
    Seine Kidnapper wurden nachlässig. Ihre Zimmertür blieb offen, und obwohl das ›Hotel‹ vor Uniformierten wimmelte, stand keine Wache mehr davor. Er holte tief Luft. »Ich werde was ausprobieren«, sagte er zu Elizabeth. Er setzte seine Sonnenbrille auf, verließ das Zimmer und lief die Treppe hinunter in Richtung Ausgang.
    Erst zwei Stockwerke tiefer bemerkte man ihn, und sofort wurde er von brüllenden, fuchtelnden Männern umlagert, doch er ließ sich nicht beirren. What you do. Where you go. Not possible. Er war jetzt am Empfangstresen, und eine Traube Männer mit betressten Uniformen und verspiegelten Sonnenbrillen umringte ihn; Männer mit Pistolen, bemerkte er, doch daran war er gewöhnt. Where you go? Stop. You stop. Er lächelte so freundlich wie möglich. »Ich gehe spazieren«, sagte er, zeigte auf die Eingangstür und ahmte mit seinen Fingern zwei Beine nach. »Ich war noch nie in Santiago, wissen Sie. Es sieht herrlich aus. Ich dachte, ich drehe mal eine kleine Runde.« Die Carabineros wussten nicht, was sie tun sollten. Sie drohten und schrien, doch niemand legte Hand an ihn. Er ging weiter. Er war jetzt zur Tür hinaus, seine Füße berührten den Gehsteig, er hatte keine Ahnung, wo das hinführen sollte, doch er bog nach links und wanderte weiter. »Sir, Sie

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