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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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wurde ausgesprochen, Sir! Der Name wurde ausgesprochen! Sir, bitte, der Hut!«
    Die amtlichen britischen Stellen hielten sich auf Abstand. Der Leiter des British Council in Indien, Colin Perchard, verweigerte ihm eine Pressekonferenz im Veranstaltungssaal des Councils. Der britische Hochkommissar Sir Rob Young war vom Auswärtigen Amt instruiert worden, sich von ihm fernzuhalten. Er versuchte, sich nichts daraus zu machen und sich darauf zu besinnen, weshalb er eigentlich hier war. Der Commonwealth Writers’ Prize war nur ein Vorwand. Der eigentliche Sieg war diese Reise mit Zafar. Indien selbst war der Preis.
    Sie machten eine Autoreise: Jaipur, Fatehpur Sikri, Agra, Solan. Es waren noch mehr Trucks unterwegs, als er in Erinnerung hatte, viel mehr, lärmend und todesgefährlich schepperten sie zuweilen auf der falschen Fahrbahnseite direkt auf sie zu. Alle paar Meilen lagen Wracks aus Frontalzusammenstößen links und rechts der Straße.
    Schau mal, Zafar, das ist der Schrein eines bedeutenden muslimischen Heiligen; alle LKW -Fahrer halten dort an und beten um Glück, sogar die Hindus. Dann steigen sie wieder in ihre Kabinen und setzen ihr und unser Leben aufs Spiel. Schau mal, Zafar, das ist ein Sattelschlepper voller Menschen. Wenn es Wahlen gibt, werden die Sarpanch oder Dorfvorsteher jedes Dorfes dazu angehalten, solche Fuhren zu den Politikerkundgebungen karren zu lassen. Für Sonia Gandhi sind zehn Fuhren pro Dorf Pflicht. Heutzutage haben die Leute die Nase derart voll von den Politikern, dass niemand mehr freiwillig zu einer Kundgebung geht. Schau mal, das, was da in den Feldern vor sich hin qualmt, sind die giftigen Schlote der Ziegelöfen.
    Außerhalb der Stadt ist die Luft weniger verschmutzt, aber alles andere als sauber. Doch stell dir vor, in Bombay ist der Smog zwischen Dezember und Februar so heftig, dass die Flugzeuge erst nach elf Uhr morgens starten und landen können.
    Alle hundert Meter sahen sie ein Schild, auf dem STD - ISD - PCO stand. PCO bedeutete ›Public call office‹, öffentliches Telefon, und jedermann konnte sich in diese kleinen Buden zwängen, in ganz Indien oder gar in der ganzen Welt herumtelefonieren und beim Hinausgehen zahlen. Das war Indiens erste Kommunikationsrevolution. Die zweite sollte ein paar Jahre später folgen und die Inder mittels zig Millionen Handys mehr denn je untereinander und mit der Welt vernetzen.
    Zafar war fast einundzwanzig. Mit ihm zu ihrem rückübertragenen Haus nach Solan zu fahren war sehr bewegend. Eines Tages würde es Zafar und dem kleinen Milan gehören. Sie würden die vierte Familiengeneration sein, die hierherkäme. Ihre Familie war weit versprengt, und diese kleine Scholle Beständigkeit bedeutete sehr viel.
    Die Luft wurde frischer, hohe Koniferen neigten sich von steilen Böschungen herab. Die Sonne sank, und im Dämmerschein glommen die Lichter der ersten Bergstationen über ihnen auf. Sie überholten eine Schmalspureisenbahn, die ihren langsamen, malerischen Weg nach Shimla emporkroch. Unweit von Solan machten sie in einem dhaba Rast, dessen Besitzer sich freute, ihn begrüßen zu dürfen. Irgendjemand bat um ein Autogramm. Er ignorierte das besorgte Stirnrunzeln des Polizeiteamleiters Akshey Kumar. Seit seinem zwölften Lebenjahr war er nicht mehr in Solan gewesen, doch es war, als würde er nach Hause kommen.
    Es war dunkel, als sie Anis’ Villa erreichten. Von der Straße aus führten hundertzweiundzwanzig Stufen zu ihr empor. Unten war ein kleines Tor, und Vijay hieß ihn offiziell in seinem Haus willkommen, das er für die Familie zurückerstritten hatte. Der chowkidar Govind Ram eilte herbei und verneigte sich zu Zafars Erstaunen vor ihnen, um ihre Füße zu berühren. Der Himmel flammte vor Sternen. Er ging in den Garten. Er musste allein sein. Um fünf Uhr morgens wurde er von Musik und Gesang aus dem Lautsprecher eines Hindutempels auf der anderen Talseite geweckt. Er zog sich an und ging im ersten Morgenlicht um das Haus herum. Mit seinen hohen Giebeln und den Ecktürmchen war es noch schöner, als er es in Erinnerung hatte, noch schöner als auf Vijays Fotos, und der Blick über die Hügel war atemberaubend. Es war ein sehr seltsames Gefühl, durch ein Haus zu gehen, das er nicht kannte und das dennoch zu ihm gehörte.
    Den Großteil des Tages verbrachten sie damit, das Grundstück zu erkunden, im Schatten uralter, hoher Koniferen im Garten zu sitzen und Vijays Spezialrührei zu essen. Die Reise hatte sich gelohnt: Er

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