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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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darauf vertrauen, dass die Zeit Klarheit bringen würde.
    *
    Der Boden unter ihren Füßen war zum ›eurasischen Regionalgewinner‹ des Commonwealth Writers’ Prize ernannt worden. Der Hauptgewinner würde bei der Preisverleihung in Neu-Delhi im April bekanntgegeben werden. Er beschloss, hinzureisen. Und er würde Zafar mitnehmen. Nach all den verlorenen und zuweilen zornigen Jahren würde er Indien zurückerobern. (Das indische Verbot von Die satanischen Verse bestand immer noch.)
    Ehe er London verließ, erhielt er einen Anruf von Vijay Shankardass. Die Polizei von Delhi sei ob seiner bevorstehenden Ankunft extrem nervös. Könnte er es wohl verhindern, im Flugzeug erkannt zu werden? Sein kahler Schädel sei sehr leicht wiederzuerkennen; könnte er bitte einen Hut tragen? Seine Augen waren ebenfalls leicht zu erkennen; könnte er bitte eine Sonnenbrille aufsetzen? Und auch seinen Bart sollte er verstecken. Er sollte einen Schal darüberziehen. Zu heiß? Aber es gebe doch Baumwollschals … »Salman«, sagte Vijay vorsichtig, »die Stimmung hier ist ziemlich angespannt. Ich hab ebenfalls Herzklopfen.«
    Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Würde man ihn willkommen heißen oder zurückweisen? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
    Als er in Delhi aus dem Flugzeug stieg, war er kurz davor, den Boden oder vielmehr den blauen Teppich am Flugsteig zu küssen, doch die wachsamen Augen einer kleinen Truppe von Sicherheitsleuten hielten ihn davon ab. Der heiße Tag umfing ihn und Zafar wie eine Umarmung. Sie quetschten sich in einen engen Hindustan Ambassador. Die Klimaanlage funktionierte nicht. Er war zurück.
    Aus allen Richtungen strömte Indien auf ihn ein. KAUFT KAKERLAKEN - FALLEN VON CHILLY ! TRINKT HELLO MINERALWASSER ! TROTZ SPASS RUNTER VOM GAS !, gellte es von den Plakatwänden. Es gab auch neue Slogans. HOL DIR ORACLE 81. MACH DEIN JAVA - DIPLOM . Und als Beweis, dass die lange Zeit des Protektionismus vorüber war, war Coca-Cola mit aller Macht zurück. Bei seinem letzten Besuch in Indien war Coca-Cola verboten gewesen und hatte das Feld den widerlichen landeseigenen Imitationen Campa-Cola und Thums Up überlassen. Jetzt prangte alle hundert Meter eine rote Coke. Der aktuelle Werbespruch war in Hindi verfasst und in romanische Schrift transkribiert: Jo Chaho Ho Jaaye , was sich mit »Was immer du dir wünschst, lass es geschehen« übersetzen ließ. Er beschloss, dies als Segensspruch zu nehmen.
    BITTE HUPEN , stand hinten auf den Millionen Lastautos, die die Straße blockierten. Und sämtliche anderen Laster, Autos, Fahrräder, Mopeds, Taxis und Autorikschas kamen der Aufforderung begeistert nach und hießen sie mit einer frenetischen Interpretation der indischen Symphonie der Straße willkommen. Wait for Side! Sorry-Bye-Bye! Fatta Boy!
    Es war unmöglich, Zafar zu einer indischen Tracht zu überreden. Er selbst schlüpfte gleich nach der Ankunft in einen luftigen, weiten Kurta Pyjama, doch Zafar ließ sich nicht erweichen. »Das ist nicht mein Stil«, sagte er und blieb bei seiner Londoner Youngster-Uniform: T-Shirt, Cargohose und Turnschuhe. (Am Ende der Reise trug er zwar keine Kurtas, aber immerhin weiße Pyjamas; ein kleiner Fortschritt.)
    Am Roten Fort hingen Ankündigungen für eine abendliche son et lumière- Show. »Wenn Mum da wäre, würde sie die auf jeden Fall sehen wollen«, sagte Zafar plötzlich. Ja, dachte er, das würde sie . »Sie war ja auch hier, weißt du«, entgegnete er. Und dann erzählte er Zafar von ihrer Reise im Jahr 1974 und was seine Mutter von diesem und jenem gehalten hatte – wie sehr sie die Heiterkeit dieses Ortes oder den Trubel dort drüben geliebt hatte. Die Reise bekam eine neue Dimension.
    Er hatte gewusst, dass der erste Besuch der heikelste sein würde. Ginge er gut, würde alles leichter werden. Der zweite Besuch? »Rushdie ist wieder da«, war keine besondere Story. Und der dritte – »Oh, jetzt ist er schon wieder da« – klang erst recht nicht nach einer Sensationsmeldung. Auf der langen Ochsentour zurück zur ›Normalität‹ waren Gewohnheit und Langeweile nützliche Waffen. Er nahm sich vor, Indien mit Langeweile in die Knie zu zwingen.
    Seinen Beschützern schwebten Albtraumszenarien mit brandschatzenden Horden vor. In Alt-Delhi, wo viele Muslime lebten, waren sie besonders auf der Hut, vor allem, wenn jemand den Fauxpas beging, ihn zu erkennen. »Sir, es ist zu einer Enttarnung gekommen! Eine Enttarnung ist eingetreten! Sir, der Name

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