Joseph Anton
konnte es Zafars Gesicht ansehen.
*
Die Gerüchte über seinen Aufenthalt in Indien waren in vollem Gange. Ein paar islamische Organisationen hatten geschworen, Ärger zu machen. Beim Abendessen im Himani-Restaurant in Solan wollte er sich gerade über die scharfe indische Version chinesischen Essens hermachen, als er von einem Doordarshan-Reporter namens Agnihotri entdeckt wurde, der gerade Urlaub mit seiner Familie machte. In Null Komma nichts war ein Reporter der Lokalpresse da und stellte ein paar freundliche Fragen. All das kam nicht besonders unerwartet, doch die Überspanntheit der Polizisten erreichte durch diese Zufallstreffen den Siedepunkt und entlud sich in einem handfesten Streit. Zurück in Anis’ Villa, wurde Vijay von einem Polizeibeamten namens Kulbir Krishan aus Delhi auf dem Handy angerufen, und zum ersten Mal in ihrer jahrelangen Freundschaft verlor Vijay die Fassung. Er bebte geradezu, als er sagte: »Uns wird vorgeworfen, wir hätten diese Journalisten ins Restaurant bestellt. Dieser Mann behauptet, wir seien keine Gentlemen, wir hätten unser Wort nicht gehalten und – ist das zu fassen – ›unpassende Bemerkungen‹ gemacht. Und dann sagt dieser Kerl noch: ›Morgen wird es in Delhi Krawalle geben, und wenn wir in die Menge schießen und es Tote gibt, klebt das Blut an Ihren Händen.‹«
Er war entsetzt. Die Sache entwickelte sich zu einer Frage um Leben und Tod. Wenn die Polizei von Delhi schießwütig genug war, um Menschen zu töten, musste sie gestoppt werden, ehe es zu spät war. Für Spitzfindigkeiten war keine Zeit. Zafar starrte verstört ins Leere, derweil er den armen, wackeren Akshey Kumar (den nicht die geringste Schuld traf) zur Schnecke machte und ihm verklickerte, wenn Kulbir Krishan nicht sofort ans Telefon komme, sich persönlich bei Vijay entschuldige und ihm versichere, dass es keinerlei Absichten gebe, morgen irgendjemanden über den Haufen zu schießen, würde er die ganze Nacht hindurch zurück nach Neu-Delhi fahren und im Morgengrauen vor Premierminister Vajpayees Büro stehen und ihn auffordern, sich der Sache höchstpersönlich anzunehmen. Nachdem er seine Wuttiraden abgelassen hatte, rief Kulbir zurück, sprach von ›Missverständnissen‹ und versicherte, dass es weder Schießereien noch Tote geben werde. »Wenn ich ohne Zusammenhang gesprochen habe«, war seine denkwürdige Schlussbemerkung, »tut mir das wirklich sehr leid.«
Diese Formulierung war dermaßen absurd, dass er prustend auflegte. Doch er schlief nicht gut. Der Tenor seiner Indienreise stand und fiel mit dem, was in den nächsten zwei Tagen passieren würde, und obgleich er hoffte und glaubte, dass die Nervosität der Polizei unbegründet war, konnte er sich dessen nicht sicher sein. Delhi war ihre Stadt und er war Rip Van Winkle.
Am folgenden Tag um halb zwölf waren sie zurück in Delhi, und er hatte eine vertrauliche Unterredung mit dem für die Sicherheit der gesamten Stadt zuständigen Ersten Kriminaloberrat R. S. Gupta, einem ruhigen, energischen Mann. Der malte ein düsteres Bild. Ein muslimischer Politiker, Shoaib Iqbal, hatte vor, zum freitäglichen Mittagsgebet in die Jama Masjid zu gehen und den Imam Bukhari um Unterstützung für eine Demonstration gegen ihn und die indische Regierung, die ihn ins Land gelassen hatte, zu bitten. Die Zahl der Teilnehmer könnte riesig sein und die ganze Stadt lahmlegen. »Wir verhandeln mit ihnen«, sagte Gupta, »um die Zahl gering zu halten und die Veranstaltung friedlich zu gestalten. Vielleicht gelingt es uns.« Nach einigen Stunden angespannten Wartens, in denen er unter Hausarrest gestellt war – »Sir, bewegen Sie sich bitte nicht von der Stelle« –, gab es gute Neuigkeiten. Weniger als zweihundert Leute hatten sich eingefunden – und in Indien waren zweihundert weniger als null – alles war glattgegangen. Das Albtraumszenario war nicht wahr geworden. »Zum Glück konnten wir die Sache managen.«
Was wirklich passierte? Die Weltsicht der Sicherheitskräfte war stets beeindruckend und häufig überzeugend, doch es war nur eine Version der Wahrheit. Eine typische Eigenschaft aller Sicherheitsdienste auf der ganzen Welt war, sich beide Optionen zu sichern. Hätte es Massendemonstrationen gegeben, hätten sie gesagt: »Sehen Sie, unsere Nervosität war vollauf berechtigt.« Doch es gab keine solche Kundgebung; also hieß es: »Dank unserer Hellsichtigkeit und Geschicklichkeit haben wir die Sache verhindern können.« Schon möglich, dachte
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