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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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dem sie sich so geborgen fühlte wie in dieser kleinen Welt von Besant Nagar, wäre es ihr vielleicht möglich, sich immer von ihrer unprätentiösen besten Seite zu zeigen, und dann könnten sie bestimmt glücklich werden. Doch das hatte das Leben nicht vorgesehen.)
    *
    Das Londoner National Theatre gab die Orestie , und während die Medienhechelei unaufhörlich weiterging (und natürlich hatte es zum Fatwa - Jahrestag den üblichen Wir-bringen-dich-um-Lärm aus dem Iran gegeben, so dass er zum x-ten Mal vor der Frage stand, ob das, was er tat, wirklich weise war), fragte er sich, ob auch er für den Rest seiner Tage von den Furien verfolgt würde, von den drei Furien des islamischen Fanatismus, der Pressekritik und der zornigen Ex-Frau; oder würde er wie Orestes eines Tages den Fluch durchbrechen, von einer modernen Athene den Freispruch erlangen und ein friedliches Leben führen?
    Er schrieb an einem Roman namens Wut . Als erstem nicht-niederländischen Schriftsteller war ihm die Ehre zuteil geworden, das ›Buchwochengeschenk‹ für die niederländische Boekenweek zu schreiben, das jeder, der in einer Buchhandlung ein Buch erstand, gratis dazubekam. Hunderttausende Exemplare wurden verteilt. Meist handelte es sich um schmale Bändchen, doch Wut entwickelte sich zu einem richtigen Roman. Trotz allem, was sein Leben gerade bestimmte, strömte es geradezu aus ihm heraus, drängte darauf, geschrieben zu werden, und bestand derart heftig auf seiner Entstehung, dass es ihm fast Angst machte. Eigentlich hatte er gerade an einem anderen Roman gearbeitet – der später zu Shalimar der Narr werden sollte –, doch dann war Wut hereingeplatzt und hatte Shalimar vorübergehend von seinem Schreibtisch gestoßen.
    Im Kern des Buches stand die Vorstellung, dass er just in der Zeit in Manhattan angekommen war, in der die Stadt ein goldenes Zeitalter zu erleben glaubte – »In der Stadt brodelte das Geld«, schrieb er –, und wusste, dass solche ›Hochmomente‹ nur von kurzer Dauer waren. Er beschloss, das kreative Risiko zu wagen, den Augenblick festzuhalten, während er ihn lebte, die rückblickende Perspektive aufzugeben und seine Nase an die Gegenwart zu drücken, sie im Geschehen zu Papier zu bringen. Wenn ihm das gelang, dachte er, dann würde dieses Buch seinen gegenwärtigen Lesern vor allem in New York City das Vergnügen des Wiedererkennens bescheren, das befriedigende Gefühl, sich sagen zu können, Ja, genau so ist es , und in Zukunft würde es diesen Moment denjenigen vor Augen führen, die zu jung waren, ihn selbst zu erleben, und sie würden sagen können, Ja, so muss es gewesen sein, so war es. Wenn es ihm nicht gelang … nun, wer nicht wagte, konnte auch nicht gewinnen. Kunst war immer ein Risiko, bewegte sich ständig auf dem Grat des Möglichen und stellte den Künstler stets in Frage, und genau das gefiel ihm.
    Durch die Stadt bewegte sich ein Mann, der ihm ähnlich und zugleich unähnlich war; er hatte das gleiche Alter, stammte aus Indien, hatte eine britische Vergangenheit und eine gescheiterte Ehe; er war ein Neuling in New York. Er wollte deutlich machen, dass er gar nicht erst versuchen wollte, wie ein waschechter New Yorker über die Stadt zu schreiben. Er würde eine andere Art typische New-York-Geschichte schreiben, eine Ankunftsgeschichte. Doch die Asozialität und Griesgrämigkeit seines Malik Solanka sollte ihn gezielt von seinem Schöpfer unterscheiden. Solankas verdrossener und ernüchterter Blick auf die Stadt, in die er gekommen war, um sich zu retten, war gewollt, komisch, widersprüchlich; er war gegen das, wofür er war, er maulte über die Dinge, derentwegen er in die Stadt gezogen war. Und die Wut war nicht eine Kreatur, die ihn verfolgte und sich in seinem Kopf festkrallte, sondern das, was er an sich selbst am meisten fürchtete.
    Saladin Chamcha in Die satanischen Verse war ein ähnlicher Versuch gewesen, ein Anti- oder Gegen-Ich zu schaffen, und es war irritierend, dass beide Figuren, die er als Gegensatz zu sich selbst entwickelt hatte, von vielen als schlichte Selbstporträts gelesen wurden. Doch Stephen Dedalus war nicht Joyce und Herzog nicht Bellow und Zuckerman nicht Roth und Marcel nicht Proust; wie Matadore blieben Schriftsteller immer dicht am Stier und spielten facettenreiche Spiele mit ihrer Autobiografie, und dennoch waren ihre Schöpfungen stets interessanter als sie selbst. Gewiss war das bekannt. Doch auch Bekanntes konnte in Vergessenheit geraten. Er musste

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