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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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sollte, in die Geschichte von Saladin und Gibril. Die Pause aber hatte ihm gutgetan, und er begann zu schreiben.
    *
    Vierzig hat Gewicht. Mit vierzig erreicht ein Mann das reife Mannesalter und fühlt sich stattlich, geerdet, stark. An seinem dreißigsten Geburtstag hielt er sich für einen Versager und war mit sich schrecklich unzufrieden, an seinem vierzigsten saß er an einem goldenen Juni-nachmittag im Haus von Bruce Chatwin nahe Oxford, mitten im Wald und umgeben von literarischen Freunden – Angela Carter, Nuruddin Farah, Bill Buford, dem Herausgeber von Granta , Liz Calder, seiner Lektorin bei Jonathan Cape (damals noch ein unabhängiger Verlag, der später von Random House geschluckt wurde), sowie Bruce selbst – und er war glücklich. Das Leben schien sich zu entwickeln, wie er es sich erträumt hatte, und er arbeitete an dem, was er der Form nach wie intellektuell für sein ehrgeizigstes Buch hielt, an einem Roman, dessen Hindernisse endlich überwunden waren. Vor ihm lag eine glänzende Zukunft.
    Bald stand der vierzigste Jahrestag von Indiens Unabhängigkeit an – »Saleems vierzigster Geburtstag« –, und seine Freundin Jane Wellesley, Fernsehproduzentin und Gast bei seiner Geburtstagsparty, überredete ihn, das Drehbuch für einen abendfüllenden Dokumentarfilm zur ›Lage der Nation‹ zu schreiben. Er dachte daran, Vertreter der Öffentlichkeit und der Politik gänzlich oder doch fast gänzlich zu meiden und ein Porträt von Indien im vierzigsten Jahr zu zeichnen, ein Bild von der ›Idee Indien‹, gesehen mit den Augen und beschrieben mit den Stimmen vierzigjähriger Inder, nicht unbedingt Mitternachtskinder, aber doch Kinder des Jahres der Freiheit. Seit er ein Jahrzehnt zuvor mit Clarissa kreuz und quer durchs Land gefahren war, hatte er keine so lange Indienreise mehr unternommen, und diese zweite Reise war ebenso abwechslungsreich. Erneut schüttete das indische Füllhorn eine Vielzahl von Geschichten für ihn aus. Gib mir reichlich , dachte er, damit ich mich im Übermaß dran labe und so sterbe .
    An einem der ersten Drehtage wäre das Projekt beinahe an einem Augenblick kultureller Unachtsamkeit gescheitert. Sie filmten im Haus eines Schneiders in einem der ärmeren Stadtviertel von Delhi. Es war ein sehr heißer Tag, und nach einigen Stunden legte das Team eine Pause ein. Eine Kiste mit eiskaltem Sprudel wurde hinten aus einem Lieferwagen geholt und die Flaschen an alle verteilt – nur nicht an den Schneider und seine Familie . Er bat den Regisseur Geoff Dunlop um ein Wort unter vier Augen, und sie stiegen aufs Flachdach. Er sagte Geoff, würde die Situation nicht sofort bereinigt werden, bliese er auf der Stelle den ganzen Film ab, und falls Derartiges noch einmal vorkomme, bedeute dies auf jeden Fall das Ende ihres Projekts. Dann kam er auf den Gedanken, ihn zu fragen, was dem Schneider an Drehortgebühr gezahlt wurde. Geoff nannte einen Rupienbetrag, der in Pfund umgerechnet eine ziemlich niedrige Summe ergab. »Aber so wenig würden Sie in England niemals zahlen«, sagte er, »dabei steht dem Schneider die normale Drehortgebühr zu.« – »Aber«, erwiderte Geoff, »das wäre in Indien ein Vermögen.« – »Das geht Sie nichts an«, erwiderte er. »Sie müssen die Menschen hier mit dem gleichen Respekt behandeln, den Sie ihnen daheim erweisen würden.« Einen Moment lang sah es nach einer Pattsituation aus. Dann sagte Geoff »okay«, und sie gingen wieder nach unten. Dem Schneider und seiner Familie wurden kalte Cokes angeboten. Der Rest des Drehs verlief ohne Probleme.
    In Kerala hörte er einem berühmten Geschichtenerzähler zu, wie sein Zauber wirkte. Das Interessante an dessen Vortrag war, dass er sämtliche Regeln brach. »Fang am Anfang an«, befahl Herz-König dem aufgeregten Weißen Kaninchen in Alice im Wunderland , »und mache weiter, bis du ans Ende kommst; dann höre auf.« Auf diese Weise sollten Geschichten erzählt werden, zumindest laut den Regeln, die irgendein Herz-König erlassen hat, aber so wurden sie nicht im Freilufttheater in Kerala erzählt. Der Erzähler rührte seine Geschichten ineinander, wich oft von der Haupterzählung ab, streute Witze ein, sang Lieder, verknüpfte Politisches mit Uraltem, würzte das Ganze mit persönlichen Bemerkungen und benahm sich im Großen und Ganzen einfach daneben. Trotzdem erhob sich das Publikum nicht und spazierte angewidert von dannen. Es buhte ihn nicht aus und warf kein Gemüse oder gar Bänke in Richtung des

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