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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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Verse an, ohne zu ahnen, dass sie sich einmal auf mehr oder minder herzliche Weise begegnet waren. Allerdings machte er einen Fehler. Er konnte sich nicht genau an den Namen des Autors erinnern und brandmarkte daher ›Salman Khurshid‹, einen prominenten muslimischen Politiker. Das war für beide peinlich, für den Imam wie für den ›falschen Salman‹.
    In Kaschmir verbrachte er mehrere Tage mit einem Trupp Wanderschauspieler, die bhand pather , wörtlich ›Clownsgeschichten‹, aus der kaschmirischen Geschichte und Sagenwelt aufführten, eine der letzten Gruppen dieser Art, die angesichts der Brutalität und Gewaltsamkeit der politischen Situation in Kaschmir bittere Not litten, aber auch von Film und Fernsehen in Bedrängnis gebracht wurden. Sie erzählten freimütig über ihr Leben und übten heftige Kritik am autoritären Stil des indischen Militärs und der Sicherheitskräfte, doch sobald gefilmt wurde, logen sie. Aus lauter Angst sagten sie: »Ach, wir lieben die indische Armee.« Da er sie nicht dazu bewegen konnte, ihre Geschichte vor der Kamera zu erzählen, wurden sie aus der endgültigen Version des Dokumentarfilms herausgeschnitten, doch konnte er die ungefilmten Geschichten nie vergessen, die tobenden, hochseiltanzenden Kinder auf der Lichtung im Wald, wo die nächste Generation von Clowns und Narren herangezogen wurde, Narren, die womög lich kein Publikum mehr fanden, vor dem sie auftreten konnten, die vielleicht sogar, wenn sie erwachsen wurden, das Pappschwert des Schauspielers gegen eine echte Waffe im islamischen Dschihad eintauschten. Viele Jahre später wurden sie zum Herzstück seines ›Kaschmirromans‹ Shalimar der Narr .
    Der beredsamste all seiner Zeugen war R., eine Sikh, die in Delhi in einer Mietwohnung lebte und deren Mann und Kinder vor ihren Augen vom Mob ermordet worden waren, angefeuert und vielleicht sogar angeführt von den Sprechern der Kongresspartei, die ›Rache nahmen‹ an allen Sikhs für die Ermordung von Indira Gandhi am 31. Oktober 1984. Zwei Sikh-Leibwächter, Beant Singh und Satwant Singh, Anhänger der Bewegung für ein unabhängiges Khalistan, hatten sie getötet, um sich ihrerseits für den Überfall auf das Allerheiligste zu rächen, den Goldenen Tempel, wo sich damals der Anführer ihrer Bewegung, Sant Jarnail Singh Bhindranwale, mit vielen Bewaffneten verschanzt hatte. Drei Jahre später besaß die Witwe R. Anstand und Mut zu dem Satz: »Ich will keine Rache, keine Gewalt, kein Khalistan. Ich will nur Gerechtigkeit. Mehr nicht.«
    Zu seiner Verblüffung erlaubten ihm die indischen Behörden nicht, sie zu filmen, und auch nicht, sonst irgendetwas über die Ermordung der Sikhs zu drehen. Allerdings gelang es ihm, die Aussage der Witwe auf Band aufzunehmen, und in der endgültigen Fassung des Films wurde dazu ihr Foto mit den Bildern von vielen anderen Witwen in einer Fotomontage gezeigt, die vielleicht noch bewegender als eine Filmaufnahme war. Der indische Hochkommissar in London wollte Channel 4 zwingen, die Ausstrahlung der Dokumentation abzusetzen, doch lief der Film wie geplant. Das war Teil des Vertuschungsmanövers, mit dem die herrschende Partei ihre Rolle bei den Grau samkeiten verheimlichen wollte, die mehrere tausend Sikhs das Leben kostete – dabei war es schon sehr erstaunlich, dass die indische Regierung die Aussage einer Zeugin unterdrücken wollte, nicht die einer Terroristin, sondern die eines Opfers des Terrorismus; und es ist dem Fernsehsender hoch anzurechnen, dass er den Mut und die Prinzipientreue besaß, diesen Appell der Witwe zu senden.
    Bei der Abreise aus Indien fühlte er sich rundum gesättigt: voller Ideen, Argumente, Bilder, Klänge, Gerüche, Gesichter, Geschichten, Empfindungen, voll Kraft und Liebe. Damals konnte er nicht wissen, dass dies der Beginn eines langen Exils war. Nachdem Indien als erstes Land der Welt Die satanischen Verse verboten hatte, weigerte man sich auch, ihm ein Visum auszustellen. (Bewohner Großbritanniens benötigen ein Visum, um Indien besuchen zu können.) Eine Rückkehr, eine Heimkehr , sollte ihm zwölfeinhalb Jahre lang verwehrt bleiben.
    *
    Beim Schneiden des Films, der jetzt The Riddle of Midnight hieß, erfuhr er, dass sein Vater Krebs hatte. Sein Schwager Safwan, verheiratet mit seiner jüngsten Schwester Nabeelah (in der Familie nur ›Guljum‹, Herzchen, genannt), meldete sich aus Karatschi, um ihm zu sagen, dass Anis an einem multiplen Myelom litt, an Knochenmarkkrebs. Er war zwar in

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