Joseph Anton
Vortragenden. Stattdessen brüllte es vor Lachen, weinte vor Kummer und blieb wie gebannt auf den Sitzen kleben, bis er fertig war. Tat es das trotz der komplizierten Geschichten-Jongliererei? Oder gerade deswegen? Könnte es sein, dass dieses Feuerwerk des Erzählens in Wahrheit fesselnder als die vom Herz-König bevorzugte Variante war? Dass die mündlich vorgetragene Geschichte, die älteste aller Erzählformen, eben deshalb überlebt hatte, weil sie komplex und spielerisch geworden war und die Linearität vom Anfang zum Ende abgelehnt hatte? Falls dem so sein sollte, dann wurden ihm hier an diesem warmen Sommerabend in Kerala all seine Gedanken über das Schreiben überreich bestätigt.
Gibt man gewöhnlichen Menschen eine Stimme und genügend Zeit, sie zu nutzen, bringen sie bewegende Alltagsdichtung hervor. Eine muslimische Frau, die in einem jhopadpatti schlief, einem für Bombay typischen Gehwegverschlag, sprach davon, dass sie an der Bereitschaft ihrer Kinder zweifle, im Alter für sie zu sorgen. »Wenn ich alt bin, muss ich am Stock gehen, und dann werden wir sehen, was meine Kinder machen.« Er fragte sie, was es für sie bedeute, Inderin zu sein, und sie antwortete, sie habe ihr Leben lang in Indien gelebt und »wenn ich sterbe und man mich begräbt, dann gehe ich in Indien auf«. Eine liebenswert lächelnde Kommunistin in Kerala arbeitete fleißig den ganzen Tag auf den Reisfeldern und kam abends heim zu ihrem viel älteren Mann, der auf der Veranda hockte und für Geld Bidis rollte. »Seit ich verheiratet bin«, sagte sie, immer noch lächelnd und durchaus in Hörweite ihres Mannes, »habe ich nicht einen einzigen schönen Tag erlebt.«
Schwarze Komödie gab es auch. Er interviewte nur einen einzigen Politiker, Chaggan Bhujbal, den ersten Bürgermeister von Bombay, der Mitglied bei Shiv Sena wurde, einer vom ehemaligen Politikkarikaturisten Bal Thackeray geführten Gaunerpartei von Marathi-Nationalisten und Hindu-Kommunalpolitikern. Chaggan Bhujbal war selbst eine wandelnde Karikatur. Er ließ sich vom Kamerateam zu den alljährlichen Ganpati-Feierlichkeiten begleiten, und sie durften filmen, wie das Fest zu Ehren des elefantenköpfigen Ganesh, ehemals eine Feier für die Mitglieder aller Religionen, zu einer fäustereckenden, neonazistischen Demonstration von Hindu-Macht verkommen war. »Sie können uns Faschisten nennen«, sagte er, »denn wir sind Faschisten. Und Sie können uns Rassisten nennen, denn wir sind Rassisten.« Auf seinem Schreibtisch im Büro stand ein Telefon in Gestalt eines grünen Plastikfrosches. Mike Fox, unser ausgezeichneter Kameramann, filmte unauffällig das Telefon. Doch als wir uns die Aufnahmen ansahen, entschieden wir, den Frosch wegzulassen. Es war unmöglich, keine Sympathie für einen Mann zu empfinden, der sich eifrig mit einem grünen Frosch unterhielt. Dem Zuschauer sollte dieser Mann aber nicht sympathisch werden, also landete der Frosch auf dem Boden des Schneideraums. Aber nichts geht auf immer verloren. Der Frosch und sein Name Mainduck (Frosch) sollten später in Des Mauren letzter Seufzer wieder auftauchen.
Jama Masjid, die große Moschee im alten Delhi, hatte schwarz geflaggt, um der Ermordung von Muslimen in der Stadt Meerut zu gedenken. Er wollte in der Moschee filmen, und der alte Imam Bukhari, ein Hetzprediger und Ultra-Konservativer, willigte ein, sich mit ihm zu treffen, war doch ›Salman Rushdie‹ ein muslimischer Name. Er traf den Imam in seinem ›Garten‹, einem sorgsam abgeriegelten Flecken Stein und Erde ohne einen einzigen Grashalm. Der Imam, mit Zahnlücken, wohlbeleibt, grimmig, der Bart hennagefärbt, saß mit weit gespreizten Beinen in einem Sessel, und in seinem Schoß lagen eine Unmenge zerknüllter Geldscheine. Überall standen Untergebene, die ihn beschützten. Er hatte einen Stuhl an sich herangerückt, dessen Sitzfläche aus einem Rohrgeflecht bestand. Während der Imam sich mit ihm unterhielt, glättete er die Rupienscheine einzeln und rollte sie auf, bis sie wie die Bidis aussahen, die ein anderer Mann auf seiner Veranda in Kerala gerollt hatte. War er zufrieden mit seinem Werk, steckte er die Banknote in eines der Löcher im Rohrgeflecht, das sich rasch mit Rupien-Bidis füllte, die größeren Scheine nahe beim Imam, die anderen weiter fort. »Ja«, sagte er, »Sie dürfen filmen.« Nachdem Khomeini die Fatwa verkündet hatte, prangerte ebendieser Imam Bukhari von der Kanzel der Jama Masjid herab den Autor von Die satanischen
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