Joseph Anton
Behandlung, doch konnte man nur wenig tun. Es gab da ein Medikament, Melphalan, wodurch er vielleicht einige Monate gewann, möglicherweise sogar Jahre, falls er gut darauf ansprach. Da das aber noch nicht klar war, ließ sich schwer sagen, wie viel Zeit ihm blieb. »Was soll ich tun?«, überlegte er. »Vielleicht sollten Sameen und ich uns ablösen, dann hätte Amma wenigstens immer einen von uns um sich.« (Sameen lebte wieder in London und arbeitete im Kommunalbereich.) Daraufhin blieb es still in der Leitung, bis Safwan schließlich in ernstem Ton sagte: »Salman bhai , komm einfach. Steig ins nächste Flugzeug und komm her.« Er sprach mit Jane Wellesley und Geoff Dunlop, und beide waren sofort einverstanden. »Flieg!« Zwei Tage später war er in Pakistan und blieb dort für die letzten sechs Tage im Leben seines Vaters.
Es waren liebevolle Tage, eine Art Rückkehr zur Unschuld. Er hatte mit sich vereinbart, alles Schlechte zu vergessen, die mit angehörten Streitereien der Eltern während seiner Kindheit, die Übergriffe des betrunkenen Vaters, unter denen er im Januar 1961 im Cumberland Hotel zu leiden gehabt hatte, sowie jenen Tag, an dem er ihm einen Kinnhaken verpasste. Er war damals zwanzig Jahre alt gewesen und hatte plötzlich einfach genug von Anis’ Tobsuchtsanfällen im Suff gehabt, vor allem, da sie sich an jenem Tag gegen seine Mutter richteten. Er schlug seinen Vater und dachte: O Gott, jetzt schlägt er zurück . Anis war nicht groß, aber stark, hatte die Unterarme eines Metzgers, und ein Hieb von ihm hätte ihn zu Boden geworfen. Doch Anis schlug seinen Sohn nicht – er wandte sich nur stumm von ihm ab und fühlte sich beschämt. All das war jetzt unwichtig. Anis im Aga-Khan-Krankenhaus in Karatschi war nicht mehr stark. Er sah abgezehrt aus, der Körper ausgemergelt, und Anis schaute ihn mit sanftem Blick an. »Ich habe denen von Anfang an gesagt, dass es Krebs ist«, sagte er. »Ich habe sie gefragt: Wo ist das ganze Blut hin?« Vor langer Zeit, als er Mitternachtskinder las, hatte er sich über ›Ahmed Sinai‹ aufgeregt, eine Figur im Buch, ein Vater mit einem Alkoholproblem. Er hatte sich geweigert, mit seinem Sohn zu reden, und seiner Frau mit Scheidung gedroht, weil sie ›den Jungen dazu angestiftet‹ hatte. Er beruhigte sich erst wieder, als das Buch zum Erfolg wurde und Freunde anriefen, um ihm zu gratulieren. Er sagte Salman: »Hältst du ein Baby im Schoß, pinkelt es dich schon mal an, aber man verzeiht ihm.« Woraufhin sich der Sohn vom Vater beleidigt fühlte, und die Spannung zwischen ihnen blieb. All das war jetzt vergessen. Anis hielt die Hand seines Sohnes und flüsterte ihm zu: »Ich habe mich so geärgert, weil jedes Wort stimmt, das du geschrieben hast.«
Während der nächsten Tage erschufen sie ihre Liebe neu, bis sie wieder ganz da war, wieder ihnen gehörte, als wäre sie nie verloren gewesen. In Prousts großem Romanwerk geht es darum, die Vergangenheit nicht durch das verzerrende Prisma der Erinnerung zurückzu gewinnen, sondern so, wie sie war . Das gelang ihnen nun durch die Liebe. L’amour retrouvé . Zärtlich langte er eines Nachmittags nach dem elektrischen Rasierer und rasierte seinem Vater das Kinn.
Anis war schwach; nach einigen Tagen wollte er wieder heim. Das Haus in Karatschi war ganz anders als die Windsor Villa in Bombay, eher ein Mietshaus als eine alte Villa. Im leeren Swimmingpool quakten Frösche, hockten in der kleinen Pfütze grünen, abgestandenen Wassers am tiefen Poolende und krakeelten die ganze Nacht. Einmal, als Anis noch gesund war, hatte er sich über den Lärm so aufgeregt, dass er mitten in der Nacht aus seinem Schlafzimmer nach unten gestürmt war und mit einer Gummiflosse auf die Frösche eingedroschen hatte. Einige hatte er erwischt, sie aber nicht getötet. Bis zum Morgen waren sie wieder bei Bewusstsein und außer Sichtweite gehüpft. Frösche waren offenbar auch aus Gummi.
Jetzt schaffte es Anis nicht mehr nach oben ins Schlafzimmer, also wurde unten im Arbeitszimmer ein Bett aufgestellt, wo er umgeben von seinen Büchern lag. Wie sich herausstellte, war er pleite. In der oberen linken Schublade seines Schreibtisches fand sich ein Stapel Fünfhundert-Rupien-Scheine; das war alles Geld, was er noch besaß. Die Konten waren überzogen, das Haus war mit kleineren Summen belastet. Er hatte das Ende der Fahnenstange erreicht.
Beim Abendessen erzählte Safwan, Guljums Ehemann und erfolgreicher Elektronikingenieur, eine
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