Joseph Anton
Die satanischen Verse aus und verurteilte Khomeinis Tat als einen ›Akt des intellektuellen Terrorismus‹, später aber schloss er sich dem gegnerischen Lager an und erklärte, Rushdie habe »kein Recht, irgendwen oder irgendwas zu beleidigen, erst recht keinen Propheten oder etwas, was für heilig gehalten wird«.
Quasi-mythologische Namen setzten ihm nun zu, Großscheichs und blinde Scheichs, die Seminaristen der indischen Hochschule Da rul Uloom, die Mullahs der Wahhabiten in Saudi-Arabien (wo das Buch ebenfalls verboten worden war) und, in naher Zukunft, die turbantragenden Theologen des iranischen Ghom. Er hatte bislang kaum an diese ehrwürdigen Persönlichkeiten gedacht, sie aber dachten ganz offensichtlich an ihn. So zügig wie skrupellos legte die Welt der Religion die Bedingungen dieser Debatte fest. Die säkulare Welt, weniger gut organisiert, weniger vereint und letztlich nicht ausreichend inte ressiert, hinkte weit hinterher; wertvolles Terrain wurde kampflos aufgegeben.
Während die Demonstrationen der Gläubigen an Zahl, Größe und Lautstärke zunahmen, schrieb der südafrikanische Schriftsteller Paul Trewhela einen kühnen Essay aus linkspolitischer Position, in dem er den Roman in kompromisslos säkularer Weise verteidigte und die islamische Kampagne eine ›Explosion massenpopulärer Irrationalität‹ nannte, eine Formulierung, die eine interessante Frage aufwarf, eine harte Nuss für die Linke: Wie sollte man reagieren, wenn sich die Masse irrational verhielt? Konnte, simpel formuliert, ›das Volk‹ sich überhaupt irren? Trewhela argumentierte, hier ginge es um »die säkularisierende Tendenz des Romans … die Absicht des Autors (so Rush die), ›über Mohammed wie über einen Menschen‹ zu reden«, und er verglich dieses Vorhaben mit jenem der Junghegelianer in Deutschland in den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, mit ihrer Kritik am Christentum und der Auffassung, dass – um es mit Marx zu sagen – ›der Mensch die Religion, nicht die Religion den Menschen‹ macht. Trewhela verteidigte Die satanischen Verse , ein Buch, das für ihn in die antireligiöse Tradition eines Boccaccio, Chaucer, Rabelais, Aretino und Balzac gehörte, und forderte eine deutliche säkulare Antwort auf die religiösen Attacken. »Das Buch lässt sich nicht totschweigen«, schrieb er. »Wir erleben die schmerzliche, blutige und schwierige Geburt einer neuen Zeit revolutionärer Aufklärung.«
Es gab viele Linke – Germaine Greer, John Berger, John le Carré –, die den Gedanken, die Masse könne irren, inakzeptabel fanden. Und während die Liberalen schwankten und Ausflüchte suchten, wuchs die massenpopuläre Bewegung der Irrationalität von Tag zu Tag – in ihrer Irrationalität ebenso wie in ihrer Popularität.
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Er war Mitunterzeichner von Charter 88, deren Name (den man che konservative Kommentatoren ›aufgeblasen‹ fanden) sich als eine Hommage an die große, von tschechischen Dissidenten elf Jahre zuvor verfasste Charta der Freiheit, Charta 77, verstand. Charter 88 war ein Aufruf zur konstitutionellen Reform in Großbritannien und wurde Ende November auf einer Pressekonferenz des Unterhauses verkündet. Der einzige hochrangige britische Politiker, der zu diesem Treffen erschien, war Robin Cook, künftiger Außenminister der Labour-Partei. Dies war die hohe Zeit des Thatcherismus; Labour-Führer Neil Kinnock hatte die Unterzeichner der Charter 88 im privaten Gespräch als einen Haufen von ›Wichsern, Stänkerern und Jammerlappen‹ abgetan. In jenen Tagen, lange ehe die britische Politik von der großen Dezentralisierung so dramatisch verändert wurde, ließen sich mit einer konstitutionellen Reform keine Stimmen gewinnen. Und auch Cook war vor allem deshalb gekommen, weil er sich für die Stärkung Schottlands engagierte.
Elf Jahre später sollte die an jenem Tag geknüpfte Bekanntschaft indirekt zur Lösung der internationalen Krise um Die satanischen Verse beitragen. Es war Robin Cook, der es als Außenminister der Blair- Regierung auf sich nahm, das Problem zu lösen, der, zusammen mit seinem Stellvertreter Derek Fatchett, für einen Durchbruch kämpfte und ihn auch erzielte.
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Das Jahr ging nicht gut aus. Am 2. Dezember gab es eine Demonstration gegen Die satanischen Verse in Bradford, der Stadt in Yorkshire mit Englands größtem Anteil muslimischer Bürger. Am 3. Dezember erhielt Clarissa ihren ersten Drohanruf. Am 4. Dezember, ihrem vierzigsten Geburtstag,
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