Joseph Anton
Drohungen erhalten hatte. Die Wolke wurde dunkler.
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Die Entscheidung der Jury über den Booker-Preis 1988 war rasch gefällt. Ihr Vorsitzender Michael Foot, Parlamentsabgeordneter, ehemals Führer der Labour-Partei und glühender Verehrer von Hazlitt und Swift, setzte sich leidenschaftlich für Die satanischen Verse ein. Die übrigen vier Juroren aber blieben felsenfest davon überzeugt, dass Peter Careys wunderbarer Roman Oscar und Lucinda das bessere Buch war. Einer kurzen Diskussion folgte die Abstimmung, und das war’s. Drei Jahre zuvor hatten sich die Juroren nicht zwischen Careys herrlich komisch-pikareskem Roman Illywhacker und Doris Lessings ausgezeichnetem IRA -Roman Die gute Terroristin entscheiden können, weshalb der Preis in einer Kompromissentscheidung an Keri Hulmes Maori-Epos Unter dem Tagmond ging. Am Abend nach der Entscheidung aß er zusammen mit Peter Carey und sagte ihm, seiner Meinung nach hätte Illywhacker gewinnen sollen. Carey redete dann von dem Roman, den er gerade erst angefangen hatte. Er hielt sich nämlich unter anderem auch aus Recherchegründen in England auf und wollte zu einem ganz bestimmten Strand in Devon. Rushdie erbot sich, ihn ins West Country fahren, und gemeinsam durchstreiften sie einen schönen Tag lang England und das Dorf ›Hennacombe‹, in dem das Kind Oscar Hopkins und dessen grimmiger Vater Theophilus leben sollten, so wie es ihre realen Vorbilder Edmund Gosse und dessen Vater Philip (wie Theophilus Naturforscher, Witwer und Mitglied der Plymouth-Brethren) in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts getan hatten. Der Strand lag vierhundert Stufen den Steilabhang hinab. Sie sammelten ein paar Muscheln und viele auffällig rosafarbene und graue Kiesel, aßen in einem Pub ein deftiges Mittagessen, Fleisch in dunkler Soße, dazu warmes Bier, und redeten den ganzen Tag lang über die Liebe. In jenen Tagen war er noch mit Robyn zusammen, die wie Carey Australierin war. Peter hatte erst vor kurzem Alison Summers geheiratet, Theaterdirektorin in Sydney, und war ebenso glücklich wie leidenschaftlich verliebt. Als sie wieder nach London fuhren, waren sie Freunde geworden. Kurz danach trennte er sich von Robyn, und Peter sollte später eine bittere Scheidung durchmachen, doch dass Liebe sterben konnte, hieß keineswegs, dass sie nicht gelebt hatte. Kaum wurde die Entscheidung der Jury verkündet, ging er quer durch die Guildhall, um Peter zu umarmen, ihm zu gratulieren und ins Ohr zu flüstern, die Moral von der Geschichte sei, Schriftsteller A solle niemals Schriftsteller B bei der Recherche helfen, denn dann würde Schriftsteller B die Rechercheergebnisse nutzen, um Schriftsteller A den Preis vor der Nase wegzuschnappen.
Es wäre schön gewesen zu gewinnen, doch freute er sich für Peter, und ehrlich gesagt, der wachsende Streit um seinen Roman machte ihm größere Sorgen. Hätte Die satanischen Verse gewonnen, wäre die ›qualitative Verteidigung‹ wieder ins Zentrum gerückt, doch gab es drängendere Probleme. Als er gegen elf Uhr abends nach Hause kam, hörte er auf seinem Anrufbeantworter eine Nachricht, in der man ihn drängte, einen muslimischen Geistlichen in Südafrika anzurufen, auch wenn es schon sehr spät sei. Er war von der Anti-Apartheid-Zeitung Weekly Mail als Hauptredner zu einer Konferenz gegen Apartheid und Zensur nach Johannesburg eingeladen worden – eine Einladung, die mit Zustimmung der ›breiten Demokratiebewegung‹ in Südafrika erfolgt war, also mit der unausgesprochenen Unterstützung des Afrikanischen Nationalkongresses –, und er sollte bereits in vier Tagen fliegen. »Ich muss unbedingt noch vor Ihrem Abflug mit Ihnen reden«, hieß es in der Nachricht. Er befand sich in einer seltsamen Stimmung, die mit Eheproblemen und den Vorfällen dieses Abends zusammenhing (es war der Abend gewesen, an dem seine Frau William Golding erzählt hatte, sie habe einen feministischen Herrn der Fliegen geschrieben), beschloss dann aber dennoch, anzurufen. Im dunklen Wohnzimmer sitzend, hörte er einer Stimme aus einer anderen Welt zu, die ihm sagte, er dürfe nicht kommen, um auf der Weekly Mail -Konferenz zu reden. Die Stimme nannte sich einen liberalen, modernen Menschen, den eine zweifache Sorge plage, zum einen die um die Sicherheit des Autors, zum anderen die um das Gedeihen der Anti-Apartheid-Bewegung. Wenn er im gegenwärtigen Klima nach Johannesburg reiste, löste dies unter den Muslimen gewiss eine breite, feindselige Reaktion aus, was in
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