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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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italienischen Stil erbautes Rathaus und das Justizgericht aufragten. Es gab einen Teich mit Fontäne und eine Ecke, die ›Speaker’s Corner‹ hieß, da die Leute hier über all das reden konnten, wonach ihnen der Sinn stand. Die muslimischen Demonstranten hatten allerdings für Seifenkistengerede nichts übrig. The Tyrls war eine bescheidenere Gegend, als es der Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933 gewesen war, und in Bradford wurde bloß ein einziges Buch verbrannt, nicht fünfundzwanzigtausend oder mehr; nur wenige Leute, die hier versammelt waren, dürften einigermaßen über die Ereignisse Bescheid gewusst haben, bei denen fünfundfünfzig Jahre zuvor Goebbels den Ton angegeben hatte: »Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner.« An jenem Tag wurden die Werke von Bertolt Brecht, Karl Marx und Thomas Mann, sogar Bücher von Ernest Hemingway verbrannt. Nein, die Demonstranten wussten nichts von jenem Scheiterhaufen oder dem Wunsch der Nazis, die deutsche Kultur von ›degenerierten‹ Ideen zu ›säubern‹ und zu ›reinigen‹. Vielleicht war ihnen sogar das Wort Autodafé unbekannt oder das Treiben der katholischen Inquisition, doch selbst wenn ihnen jedes Gespür für Geschichte fehlte, waren sie dennoch Teil von ihr. Auch sie waren gekommen, einen häretischen Text durch das Feuer zu vernichten.
    Er spazierte zwischen den Steinen umher, die er sich von Merlin errichtet dachte, und eine Stunde verging wie im Flug. Vielleicht hielt er seine Frau sogar an der Hand. Auf dem Heimweg kamen sie an Runnymede vorbei, jener feuchten Weide an der Themse, auf der die Adligen ihren König Johann gezwungen hatten, die Magna Charta zu unterschreiben. Dies war der Ort, an dem die Briten 774 Jahre zuvor ihre Freiheit von tyrannischer Herrschaft errangen. Und hier stand auch das britische Mahnmal zu Ehren des ermordeten Präsidenten John F. Kennedy, dessen in Stein gehauene Worte ihm an diesem Tag viel zu sagen hatten: Jede Nation, mag sie uns Gutes oder Böses wünschen, soll wissen, wir werden jeden Preis bezahlen, jede Bürde auf uns nehmen, jede Härte ertragen, jedem Freund helfen und jedem Feind entgegentreten, um den Fortbestand und den Sieg der Freiheit zu sichern .
    Er stellte das Autoradio an, und die Bücherverbrennung in Bradford war die Meldung des Tages. Dann waren sie zu Hause; die Gegenwart holte sie wieder ein. Am Bildschirm sah er, was er in den letzten Stunden zu vermeiden gesucht hatte, eine Demonstration mit gut tausend Teilnehmern, ausnahmslos Männer. Die Gesichter waren wutverzerrt, oder, um genau zu sein: Ihre Gesichter demonstrierten Wut für die Kameras. Den Augen merkte er die Begeisterung über die Anwesenheit der internationalen Presse an. Das hier war die Erregung des Berühmtseins, das, was Saul Bellow einmal den ›Ruhm der Ereignisse‹ genannt hatte. Es war glorreich, ja fast erotisch, sich im Blitzlichtgewitter zu baden, und dies sollte ihr Moment auf dem roten Teppich der Geschichte sein. Sie trugen Poster, auf denen stand › RUSHDIE STINKT ‹ oder ›RUSHDIE, FRISS DEINE WORTE ‹. Sie waren bereit für die Nahaufnahme.
    Ein Exemplar seines Romans war an eine Latte genagelt und in Brand gesteckt worden: gekreuzigt, dann geopfert. Das Bild sollte er nie wieder vergessen: Die begeistert wütenden Gesichter, jubelnd vor Wut; Männer, die glaubten, ihre Identität würde aus dieser Wut geboren. Und im Vordergrund stand ein selbstzufriedener Kerl mit weichem Filzhut und kleinem Poirot-Schnauzer, der Stadtratsabgeordnete Mohammad Ajeeb – seltsam, aber das Wort ajeeb bedeutet in Urdu seltsam –, und Mohammad Ajeeb hatte der Menge zugerufen: »Islam heißt Frieden.«
    Er sah sein Buch brennen und dachte natürlich an Heine. Aber den ebenso selbstzufriedenen wie wütenden Männern und Jungen von Bradford sagte der Name Heinrich Heine nichts. Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen , eine Zeile aus Almansor , mit prophetischem Weitblick mehr als ein Jahrhundert vor den Nazis geschrieben und später in den Boden des Berliner Bebelplatzes eingraviert, an der Stelle der alten Bücherverbrennung durch die Nazis also: Würde sie eines Tages auch in den Bürgersteig auf Bradfords The Tyrl eingraviert werden, um an diese viel unbedeutendere, aber dennoch schändliche Tat zu erinnern? Nein, dachte er, vermutlich nicht. Auch wenn das in

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