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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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Mitternachtskinder hatte seine Geheimnisse erst offenbart, als er sich nach langem Hadern eines Tages hinsetzte und schrieb: »Es war einmal ein kleiner Junge, der wurde in der Stadt Bombay geboren …« Nicht anders war es mit Harun . In dem Moment, in dem er die traurige Stadt hatte und die Wehmutfische, da wusste er, wie es mit dem Buch weitergehen würde. Vielleicht sprang er sogar auf und klatschte in die Hände. Dieser Augenblick aber lag noch Monate in der Zukunft. Vorläufig gab es nur die vergeblichen Versuche und den Sturm.
    *
    In Großbritannien fuhr eine Schar selbsternannter ›Führer‹ und ›Sprecher‹ fort, nach Ruhm zu streben, indem sie ihm Dolche in den Rücken stießen und dann die Klingenstufen hinaufhüpften. Keiner aber war so unverblümt und gefährlich wie ein silberbärtiger Gartenzwerg namens Kalim Siddiqui, der die Fatwa in mehreren Fernsehauftritten leidenschaftlich verteidigte und in einer Reihe öffentlicher Versammlungen (die auch von einigen Parlamentsmitgliedern besucht wurden) verlangte, man möge die Hand heben, um die einstimmige Ansicht aller Anwesenden kundzutun, dass der Verleumder und Abtrünnige getötet werden sollte. Alle Hände flogen in die Höhe. Niemand wurde deshalb angezeigt. Siddiquis Muslim Institute war völlig unbedeutend, doch wurde ihm von den iranischen Mullahs, die er oft besuchte, der rote Teppich ausgerollt; und er traf sich mit allerhand wichtigen Leuten, um von ihnen zu verlangen, dass sie den Druck aufrechterhielten. Während einer britischen Fernsehsendung bekannte er, wie seiner Meinung nach die Muslime dachten. »Wir schlagen zurück«, sagte er. »Und manchmal schlagen wir auch zurück, bevor was passiert ist.«
    In weiteren Buchläden wurden Brandbomben gezündet – bei Collet’s und Dillons in London und Abbey’s im australischen Sydney. Weitere Büchereien weigerten sich, das Buch ins Regal zu stellen, ein Dutzend Drucker in Frankreich lehnten es ab, die französische Ausgabe zu drucken, und erneut wurden gegen Verleger Drohungen ausgestoßen, so auch gegen seinen norwegischen Verleger William Nyg aard von H. Aschehoug & Co., der unter Personenschutz gestellt wurde. Die meisten Menschen aber, die rund um die Welt in den Büros der Verlage seines Romans arbeiteten, blieben ungeschützt. Er konnte sich vorstellen, unter welcher Anspannung sie daheim und auf der Arbeit litten, welche Sorgen sie um ihre Familie und sich hatten. Viel zu wenig Aufmerksamkeit wurde dem Mut dieser ›einfachen‹ Leute geschenkt, die Tag für Tag Außergewöhnliches leisteten, ihre Arbeit machten, die Grundsätze der Freiheit verteidigten und an vorderster Front kämpften.
    Muslime wurden von Muslimen getötet, weil sie keine blutrünstigen Ansichten hegten. In Belgien tötete man den gebürtigen Saudi Abdullah Ahdal, einen Mullah, von dem es hieß, er sei das spirituelle Oberhaupt der Muslime des Landes, sowie dessen tunesischen Stellvertreter Salim Bahri, weil sie beide der Ansicht waren, in Europa gelte, was immer Khomeini auch für die Iraner gesagt hatte, das Recht auf freie Meinungsäußerung.
    »Ich bin gefangen und geknebelt«, schrieb er in sein Tagebuch, »ich kann nicht reden. Ich möchte mit meinem Sohn im Park Fußball spielen. Gewöhnliches, banales Leben: mein unmöglicher Traum.« Freunde, die ihn damals sahen, waren über seinen physischen Verfall entsetzt. Er hatte zugenommen, ließ den Bart zu einem hässlichen, knollenförmigen Gestrüpp wachsen, die Augen waren tief eingesunken. Er sah aus wie ein geschlagener Mann.
    *
    In kürzester Zeit hatte er sich mit seinen Bewachern angefreundet, nur Marianne fand sich schwer mit dieser Invasion in ihre private Welt ab und wahrte Distanz. Er aber wusste es zu schätzen, wie sie eifrig ver suchten, in seiner Gegenwart fröhlich und gut gelaunt zu sein, um seine Stimmung zu heben, aber auch, wie sie sich um Zurückhaltung bemühten. Ihnen war klar, wie schwer es für ihre ›Kunden‹ war, Polizisten in der Küche zu haben, die Spuren in der Butter hinterließen. Ohne jeden Unmut gaben sie sich größte Mühe, ihm so viel Freiraum wie nur möglich zu gewähren. Und die meisten seiner Bewacher fanden – wie er rasch heraushörte – die Beengtheit in seinem besonderen Fall fast unerträglicher als er selbst. Sie waren Männer der Tat, ihre Bedürfnisse standen im Gegensatz zu denen eines das Sitzen gewohnten Romanciers, der sich an die letzten Reste seines Innenlebens klammerte, seines Geisteslebens. Er

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