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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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Kombinationen, doch klangen sie alle lächerlich. Dann fand er eine, die nicht so klang. Er schrieb die Namen auf, nebeneinander, die Vornamen von Conrad und Tschechow, und da war er, sein Name für die nächsten elf Jahre.
    »Joseph Anton.«
    »Klasse«, sagte Stan. »Dann macht es Ihnen doch nichts aus, wenn ich Sie Joe nenne?«
    Es machte ihm was aus. Er merkte bald, dass ihm die Abkürzung zuwider war – aus Gründen, die er nicht ganz verstand: warum sollte Joe so viel schlimmer sein als Joseph ? Er war weder das eine noch das andere, und beide sollten für ihn gleich falsch oder gleich angemessen klingen, dennoch hatte er fast von Anfang an was gegen ›Joe‹. Mit dem einsilbigen Namen aber kamen seine Personenschützer zurecht, den behielten sie am besten und vergaßen ihn auch nicht in der Öffentlichkeit. Soweit es sie betraf, würde es also bei ›Joe‹ bleiben.
    »Joseph Anton.« Er versuchte sich an das zu gewöhnen, was er geschaffen hatte. Sein Leben hatte er damit zugebracht, fiktionale Figuren zu benennen. Und nun, da er sich selbst benannte, verwandelte er sich zunehmend in eben eine solche fiktive Figur. ›Conrad Tschechow‹ hätte nicht funktioniert, aber ›Joseph Anton‹ war jemand, den es geben könnte. Den es jetzt gab.
    Conrad, der von einer Sprache zur anderen wechselnde Schöpfer von Wanderern, verirrten wie nicht verirrten, von Reisenden ins Herz der Finsternis, von Geheimagenten in einer Welt voller Killer und Bomben und von mindestens einem Feigling, der sich vor seiner Schande versteckte; sowie Tschechow, der Meister der Einsamkeit und Melancholie, der Schönheit einer alten Welt, zerstört wie die Bäume im Kirschgarten von der Brutalität des Neuen; Tschechow, dessen Drei Schwestern glaubten, das wahre Leben sei stets anderswo, und die sich ewig nach einem Moskau sehnten, in das sie nicht zurückkehren konnten: Dies waren nun seine Namenspaten. Conrad war es, der ihm das Motto gab, an das er sich in jenen langen Jahren, die nun folgen sollten, klammerte wie an einen Rettungsanker. In seiner heute nicht länger hinnehmbar betitelten Erzählung Der Nigger von der Narzissus wird der von Tuberkulose befallene Held James Wait auf langer Seefahrt von einem mitreisenden Matrosen gefragt, warum er denn an Bord kam, da er doch gewusst haben musste, dass er nicht gesund war. »Aber ich muss leben, bis ich sterbe, oder nicht?«, hatte Wait geantwortet. Das müssen wir alle, dachte er, als er das Buch las, auch wenn ihm unter den jetzigen Umständen der Satz wie ein Befehl klang.
    »Joseph Anton«, sagte er sich, »du musst leben, bis du stirbst.«
    *
    Vor dem Angriff war ihm nie der Gedanke gekommen, mit dem Schreiben aufzuhören, etwas anderes zu sein, ein Nicht-Schreiber . Schriftsteller zu werden – zu entdecken, dass er tun konnte, was er sich am sehnlichsten wünschte –, war eine der größten Freuden in seinem Leben gewesen. Die Rezeption von Die satanischen Verse aber hatte ihn, zumindest vorübergehend, dieser Freude beraubt, nicht aus Angst, sondern aus tiefer Enttäuschung. Wenn man fünf Jahre seines Lebens mit einem großen, komplexen Projekt ringt, es zu bezwingen versucht, unter seine Kontrolle bringt und ihm all die gestalterische Schönheit verleiht, die das eigene Talent bietet – und wenn es dann auf solch verzerrte, hässliche Weise aufgenommen wird, dann war es der Mühe vielleicht nicht wert. Wenn er solche Reaktionen für seine größte Anstrengung einheimste, sollte er es vielleicht lieber mit etwas anderem versuchen. Er könnte Busschaffner werden, Hotelpage, ein Straßenmusiker, der im Winter in einer Unterführung gegen Kleingeld Stepptänze aufführte. All diese Beschäftigungen schienen ihm nobler zu sein als die eigene.
    Um solche Gedanken abzuwehren, begann er, Buchbesprechungen zu schreiben. Vor der Fatwa hatte ihn sein Freund Blake Morrison gebeten, fürs Feuilleton des Observer eine Besprechung von Philip Roths Die Tatsachen zu schreiben. Er schrieb den Artikel und schickte ihn ab. Allerdings durfte er nirgendwo in der Nähe aufgegeben werden, und er besaß kein Faxgerät, aber einer seiner Bewacher war bereit, den Brief in London einzustecken, sobald seine Schicht wechselte. Er legte dem Schreiben einen Zettel bei, auf dem er sich für die späte Abgabe entschuldigte. Als die Zeitung seine Besprechung brachte, prangte ein Faksimile seiner handschriftlichen Notiz auf der ersten S eite. Er war für viele Menschen so schnell derart unwirklich geworden,

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