Joseph Anton
dass es dieser Beweis seiner Existenz auf die Titelseite brachte.
Er fragte Blake, ob er weiter Besprechungen für ihn schreiben dürfe, und er schaffte es von da an, alle paar Wochen Artikel von etwa achthundert Wörtern abzuliefern. Sie fielen ihm nicht leicht – wie Zähne ziehen , dachte er, ein Klischee, das ihm passend schien, da seine Weisheitszähne jetzt ziemlich oft weh taten und sein Schutzteam nach einer ›Lösung‹ suchte –, und dennoch waren die Artikel seine ersten Schritte zurück in die Normalität, fort von Rushdie , hin zu Salman , erneut zur Literatur, fort von dem trostlosen, pessimistischen Gedanken, ein Nicht-Schreiber werden zu wollen.
Es war Zafar, der schließlich dafür sorgte, dass er wieder zu sich zurückfand, Zafar, mit dem er unermüdlich Treffen vereinbarte – die Polizei fuhr hin und her, Vater und Sohn im Schüttelgang, machte diese Treffen möglich – in London bei Sue, in Gurmukhs Haus in der Patshull Road in Kentish Town, bei den Pinters am Campden Hill Square, bei Liz Calder in Archway und einmal, welch Wunder, für ein ganzes Wochenende bei Clarissas ältester Freundin Rosanne auf einem Bauernhof mit lauter Ziegen, Hühnern und Gänsen irgendwo in einem Tal bei Liskeard. Sie spielten Fußball – er bewies Talent als Torwart, warf sich begeistert von einer in die andere Ecke – und am Computer. Sie setzten Modellzüge und Modellautos zusammen. Sie taten ganz gewöhnliche Vater-und-Sohn-Dinge, aber ihm kamen sie ganz außergewöhnlich vor. Rosannes kleine Tochter Georgie überredete unterdessen die Polizisten, sich mit Prinzessinnenkronen und Federboas aus ihrer Verkleidungskiste herauszuputzen.
Marianne hatte übers Wochenende nicht kommen können, weshalb er mit Zafar ein Schlafzimmer teilte. Und es war Zafar, der ihn an sein Versprechen erinnerte: »Was ist mit meinem Buch, Dad?«
Es war das einzige Mal in seinem Leben als Schriftsteller, dass er gleich von Anfang an den ganzen Plot kannte. Wie ein Geschenk kam ihm die Geschichte in den Kopf. Während Zafar badete, hatte er dem Jungen Geschichten erzählt, Badgeschichten statt Bettgeschichten. Kleine Sandelholztiere und shikara -Boote aus Kaschmir schwammen im Wannenwasser, und dort wurde das Meer der Geschichten geboren, vielleicht auch wiedergeboren. Das eigentliche Geschichtenmeer nämlich findet sich im Titel eines alten Sanskritbuches. Im elften Jahrhundert hatte in Kaschmir ein shivaitischer Brahmane namens Somadeva ein gigantisches Geschichtenkompendium zusammengestellt, das er Kathasaritsagara nannte. Katha heißt Geschichte, sarit sind Ströme, und sagara ist das Meer oder der Ozean, Kathasaritsagara ist also das ›Geschichtenströmemeer‹, was gewöhnlich mit ›Ozean der Erzählströme‹ wiedergegeben wird. Dabei kommt in Somadevas riesigem Buch eigentlich gar kein Ozean oder Meer vor. Was aber wäre, wenn es tatsächlich dieses Meer gäbe, in dem alle je erfundenen Geschichten in Strömen zusammenflossen? Während Zafar badete, nahm sein Vater einen Becher und tat, als nippte er daran, um eine Geschichte zu finden, die er ihm erzählen konnte, einen Geschichtenstrom, der durch das Bad der Geschichten floss.
Und in Zafars Buch würde er nun selbst dieses Meer aufsuchen. Es würde einen Geschichtenerzähler geben, der die Gabe des Erzählens verliert, als ihn seine Frau verlässt, und sein Sohn muss bis zum Quell aller Geschichten reisen, um herauszufinden, wie der Vater die Gabe zurückgewinnen kann. Das Ende war das Einzige, was sich gegenüber der ursprünglichen Erzählversion änderte. Anfangs hatte er gedacht, es könne ein ›modernes‹ Buch werden, in der die Patchwork-Familie eine Flickenfamilie bleibt, ein Zustand, an den sich der Junge gewöhnt, so wie sich Kinder in der wirklichen Welt daran gewöhnen und wie sich auch sein Sohn daran gewöhnt hatte. Doch die Form der Geschichte verlangte, dass das, was am Beginn zerbrach, am Ende wieder ganz war. Ein Happyend musste her, und er kam mit sich überein, dass er bereit war, eines zu finden. Seit einiger Zeit war er extrem daran interessiert, dass Geschichten ein glückliches Ende fanden.
Viele Jahre zuvor hatte er nach der Lektüre von Ibn Battutas Buch Die Reisen eine Kurzgeschichte mit dem Titel ›Prinzessin Khamosh‹ geschrieben. Ibn Battuta war ein marokkanischer Gelehrter des vierzehnten Jahrhunderts mit ruhelosen Beinen, dessen Bericht über ein Vierteljahrhundert des Reisens durch die arabische Welt und darüber hinaus, etwa nach
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