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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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machen zu dürfen, mit den Worten widersetzte, dass er das Team in Gefahr bringe. Er sah, wie Siegfried die Hände zu Fäusten ballte, hielt ihm aber stand und sah ihn an, bis er die Augen niederschlug. Man brachte Siegfried fort, und er kehrte nie zurück. Angst lässt gute Menschen schlimme Dinge tun.
    Das waren auch schon alle Schwierigkeiten, die er je mit seinen Beschützerteams hatte. Viele Jahre später veröffentlichte Ron Evans, ein unzufriedener Fahrer, der wegen Veruntreuung aus dem Polizei dienst entlassen wurde, in der britischen Boulevardpresse einige rei ßerische Unwahrheiten und behauptete unter anderem, die Bewacher hätten gerade diesen besonderen ›Kunden‹ derart gehasst, dass sie ihn in eine Kammer einsperrten, um dann in den Pub zu gehen und ein Bier zu trinken. An dem Tag, an dem die Anschuldigungen veröffentlicht wurden, kontaktierten ihn mehrere Mitglieder seiner alten Teams. Die Beamten fanden die Lügen widerlich, auch dass es ihre Vorgesetzten im Yard versäumten, ihn in Schutz zu nehmen, und ganz besonders, dass der entlassene Fahrer das schon fast sizilianische omertà -Gebot, den Schweigekodex des Special Branch, gebrochen hatte. Sie waren stolz darauf, dass niemand im Branch etwas an die Presse verriet und nichts durchsickern ließ, dass niemand tratschte oder Geschichten erfand – anders als etwa, so sagten sie, diese geschwätzigen Jungs von den (separat arbeitenden) königlichen Schutzteams. Ihr Stolz hatte einen üblen Dämpfer erhalten. Viele von ihnen waren bereit, zu seiner Verteidigung auszusagen. Als der Fahrer sich dann vor Gericht entschuldigte und die Lügen zugab, feierten seine alten Teams und schickten triumphierende Glückwunschmails an den Mann, den sie angeblich hassten.
    Der Fahrer war nicht der einzige Lügner. Die vielleicht unfairste aller gegen ihn gerichteten Unterstellungen war die, dass er ›undankbar‹ für das sei, was für ihn getan wurde. Das gehörte zu dem ›arroganten‹, ›unangenehmen‹ Charakter, der ihm eifrig von der britischen Boulevardpresse angedichtet wurde, um ihn in der Öffentlichkeit herabzusetzen und seine Glaubwürdigkeit zu mindern. Tatsache aber blieb, dass er natürlich dankbar war, neun Jahre lang war er jeden Tag dankbar, und er sagte es wiederholt allen, die es hören wollten. Die Männer, die ihn beschützten und seine Freunde wurden, aber auch die vielen Freunde, die zum ›inneren Ring‹ zählten, kannten die Wahrheit.
    Er saß mit seinem Team zusammen und sah sich einen Dokumentarfilm darüber an, wie Ronald Reagan von John Hinckley junior angeschossen wurde. »Achten Sie auf die Bodyguards«, sagte Stan. »Alle sind am richtigen Platz, keiner tanzt aus der Reihe. Die Reaktionszeiten sind fantastisch. Keiner hat versagt. Alle erledigen ihren Job, wie man ihn nicht besser machen kann, und trotzdem wird der Präsident angeschossen.« Der gefährlichste Abschnitt, der sich niemals zu hundert Prozent absichern lässt, ist der Abschnitt zwischen der Tür eines Gebäudes und der Autotür. »Der Israeli«, sagte Benny und meinte den Botschafter, »wusste das. Er zieht den Kopf ein und rennt los.« Das war auch der Abschnitt, in dem Hinckley den Präsidenten erwischte. Allerdings lag darin eine noch größere Wahrheit verborgen. Die besten Bodyguards der Vereinigten Staaten, ausnahmslos sehr erfahren und schwer bewaffnet, hatten ihr Bestes gegeben, und doch war der Attentäter durchgedrungen. POTUS lag am Boden. So etwas wie eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Es gibt nur ein unterschiedliches Maß an Unsicherheit. Er würde lernen müssen, damit zu leben.
    Ihm wurde eine kugelsichere Kevlarweste angeboten; er lehnte ab. Und wenn er von einer Autotür zur Tür eines Gebäudes ging, dann ging er bewusst langsamer. Er würde den Kopf nicht einziehen und losrennen. Er wollte hocherhobenen Hauptes gehen.
    »Fügst du dich den Sicherheitsvorschriften dieser Welt«, sagte er sich, »wirst du auf immer ihre Kreatur bleiben, ihr Gefangener.« Die Weltsicht der Sicherheitsleute wurde von der Analyse des ›schlimmsten Falls‹ geprägt. Wollte man aber eine Straße überqueren, besagte die entsprechende Analyse, dass man von einem Laster überfahren werden konnte und deshalb die Straße nicht überqueren sollte. Trotzdem überquerten Menschen jeden Tag Straßen und wurden nicht von Lastern überfahren. Dies war etwas, woran er sich erinnern wollte. Es gibt nur ein unterschiedliches Maß an Unsicherheit . Er würde auch weiterhin

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