Joseph Anton
Indien, Südostasien und China, Marco Polo wie einen daheim herumlümmelnden Faulpelz aussehen ließ. ›Prinzessin Khamosh‹ gab vor, ein fiktives Fragment dieser Reisen zu sein, einige verlorene Seiten aus Battutas Buch. Darin kommt der marokkanische Reisende in ein geteiltes Land, in dem zwei Stämme sich befehden, die Guppees, ein wahres Plappervolk, und die Chupwalas, die einem Schweigekult frönen und eine steinerne Gottheit namens Bezaban anbeten, also einen Gott ohne Zunge . Als die Chupwalas die Prinzessin der Guppees gefangen nehmen und damit drohen, ihr dem Gott Bezaban zum Opfer die Lippen zu vernähen, kommt es zum offenen Krieg zwischen den Ländern Gup und Chup.
Nachdem er die Geschichte geschrieben hatte, war er mit ihr unzufrieden; der Einfall mit den wiederentdeckten Seiten aus dem Battuta-Buch zündete nicht recht, also hatte er die Blätter beiseitegelegt und vergessen. Jetzt fiel ihm auf, dass es bei seiner kleinen Erzählung von einem Krieg zwischen Sprache und Schweigen um mehr als nur eine linguistische Bedeutung ging, dass sich darin eine Parabel über Freiheit und Tyrannei verbarg, deren Potential er nun endlich begriff. Die Geschichte war ihm gleichsam voraus gewesen, jetzt hatte sie das Leben eingeholt. Erstaunlicherweise erinnerte er sich, in welche Schublade er die Mappe mit der Geschichte abgelegt hatte, und er bat Pauline, für ihn in die St. Peter’s Street zu fahren und die Mappe zu holen. Mittlerweile wurde das Haus nicht länger von Journalisten beobachtet, weshalb sie es unauffällig betreten und ihm die Blätter bringen konnte. Als er sie erneut las, wurde er ganz aufgeregt. Überarbeitet und vom überflüssigen Battuta-Bezug befreit, wurde sie zum dramatischen Herzen seines neuen Buches.
Anfangs hieß es ›Zafar und das Meer der Geschichten‹, doch fand er bald, dass es notwendig war, ein wenig fiktive Distanz zu schaffen zwischen dem Jungen im Buch und jenem in der Badewanne. Harun lautete Zafars Mittelname. Den entsprechend geänderten Titel fand er besser. Zafar war erst enttäuscht. Es sei doch sein Buch, sagte er, also sollte es auch von ihm handeln, aber dann änderte er gleichfalls seine Meinung. Er begriff, dass Harun er selbst und nicht er selbst war, und das war besser.
Nach dem herrlichen Wochenende mit Zafar in Cornwall fuhren sie zurück nach Porlock Weir, aber als sie sich dem Haus näherten, hörten sie drinnen Geräusche. Die Beamten schirmten ihn sofort ab und zogen die Waffen, dann wurde die Tür geöffnet. Es gab deutli che Anzeichen dafür, dass sich jemand im Haus zu schaffen gemacht hatte: verstreute Papiere, eine umgefallene Vase. Dann wieder ein Geräusch, ein verängstigtes Flügelflattern. »Ein Vogel«, rief jemand, die Stimme laut vor Erleichterung. »Im Haus ist ein Vogel.« Die Anspannung verflog, die Panik legte sich. Ein Vogel war durch den Kamin gefallen und hockte nun verschreckt auf der Vorhangstange im Wohnzimmer. Eine Krähe, dachte er. Ristle-te, rostle-te, mo, mo, mo . Ein Fenster wurde geöffnet, und der Vogel flog hinaus ins Freie. Er begann, im Haus aufzuräumen, und Lieder über Vögel kamen ihm in den Sinn. Take these broken wings and learn to fly . Und der alte karibische Song über den Vogel ›hoch oben im Bananenbaum‹. You can fly away / in the sky away / you more lucky than me .
Obwohl er sich über die Geschichte im Klaren war, stockte anfangs die Arbeit am Buch. Der Sturm vor den Fenstern des Cottage war zu laut, die Weisheitszähne taten weh, und es fiel ihm schwer, den richtigen Ton zu finden. Einige Male setzte er falsch an – zu kindlich, zu erwachsen –, aber die Stimme, die er brauchte, fand er nicht. Es sollte noch Monate vergehen, ehe er die Worte aufschrieb, die den Knoten lösten. »Es war einmal im Lande Alifbay eine traurige Stadt, die traurigste von allen Städten, so todtraurig, dass sie sogar ihren Namen vergessen hatte. Sie stand an einem freudlosen Meer voller Wehmutfische …« Joseph Heller hatte ihm einmal verraten, dass seine Bücher aus Sätzen entstanden. Aus den Sätzen »Mir ist nicht geheuer, wenn ich geschlossene Türen sehe« und »In meinem Büro gibt es fünf Personen, vor denen ich mich fürchte« entstand sein großer Roman Was geschah mit Slocum? . Und Catch 22 entwickelte sich ebenfalls aus den ersten Sätzen. Er begriff, was Heller meinte. Es gab Sätze, von denen man schon beim Aufschreiben wusste, dass sie Dutzende, gar Hunderte anderer Sätze enthielten oder möglich machten.
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