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Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)

Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)

Titel: Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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als den der Zeit selbst, deren größere Einheiten vergehen, wie die kleinen es tun – weder schnell noch langsam, sondern sie vergehen einfach. Ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, und obgleich eine Stunde ein beträchtlicher Block und Zeitraum ist, der viel Leben und Tausende von Herzschlägen umfaßt, so vergehen doch eine so große Anzahl davon, von einem Morgen zum anderen, in Schlafen und Wachen, du weißt nicht wie, und ebensowenig weißt du, wie sieben solcher Lebenstage vergehen, eine Woche also, die Einheit, von der bloße vier genügen, den Mond alle seine Zustände durchlaufen zu lassen. Jaakob hat nicht erzählt, sieben Jahre seien ihm »so schnell« wie Tage vergangen, er wollte das Gewicht eines Lebenstages nicht herabsetzen durch diesen Vergleich. Auch der Tag vergeht nicht »schnell«, aber er vergeht mit seinen Tageszeiten, mit Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend, einer unter anderen, und das tut, mit seinen Jahreszeiten, von Auferstehung zu Auferstehung, auf die gleiche unqualifizierbare Weise, eines unter anderen, auch das Jahr. – Darum überlieferte Jaakob, die sieben seien ihm vergangen, wie Tage vergehen.
    Es ist müßig, zu erinnern, ein Jahr bestehe nicht nur aus seinen Zeiten, nicht nur aus dem Kreislauf von Frühling, Grünweide und Schafschur, über Ernte und Sommersglut, ersten Regen und Neubestellung, Schnee und Nachtfrost bis wieder zur rosigen Tamariskenblüte; das sei nur der Rahmen, ein Jahr, das sei ein gewaltiges Filigran von Leben, an Vorkommnissen überreich, ein Meer zu trinken. Ein solches Filigran aus Denken, Fühlen, Tun und Geschehen bildet auch der Tag, auch die Stunde – in kleinerem Maßstabe, wenn man will; aber die Größenunterschiede zwischen den Zeiteinheiten sind wenig unbedingt, und ihr Maßstab bestimmt zugleich auch uns, unser Empfinden, unsere Einstellung und Anpassung, so daß sieben Tage oder auch Stunden unter Umständen schwerer zu trinken sein und ein kühneres Zeitunternehmen darstellen mögen als sieben Jahre. Was denn auch heißt hier kühn! Ob man heiteren Mutes oder voll Zagens in diese Flut steige: nichts lebt, was sich ihr nicht überlassen müßte, – und weiter ist auch nichts nötig. Sie trägt uns dahin auf eine Art, die reißend ist, ohne daß sie unserer Aufmerksamkeit so schiene, und blicken wir zurück, so ist der Punkt, wo wir einstiegen, »lange her«, sieben Jahre zum Beispiel, die vergangen sind, wie auch Tage vergehen. Ja, nicht einmal auszusagen und zu unterscheiden ist, wie der Mensch sich der Zeit überlasse, ob froh oder zag; die Notwendigkeit, es zu tun, überherrscht solche Unterschiede und macht sie zunichte. Niemand behauptet, daß Jaakob die sieben Jahre mit Freuden unternommen und angetreten hätte, denn erst nach ihrem Vergehen sollte er ja Kinder zeugen dürfen mit Rahel. Aber das war ein Gedankenkummer, welcher durch rein vitale Gegenwirkungen, die sein Verhältnis zur Zeit – und das Verhältnis der Zeit zu ihm – bestimmten, weitgehend abgeschwächt und aufgehoben wurde. Denn Jaakob sollte hundertundsechs Jahre alt werden, und das wußte zwar nicht sein Geist, aber sein Leib wußte es und seines Fleisches Seele, und so waren sieben Jahre vor ihm zwar nicht so wenig wie vor Gott, doch längst nicht so viel wie vor einem, der nur fünfzig oder sechzig Jahre alt werden soll, und seine Seele konnte die Wartezeit ruhiger ins Auge fassen. Schließlich aber soll noch zur allgemeinen Beruhigung darauf hingewiesen werden, daß es nicht reine Wartezeit war, die er zu bestehen hatte, denn – dazu war sie zu lang. Reines Warten ist Folterqual, und niemand hielte es aus, sieben Jahre oder auch nur sieben Tage lang dazusitzen oder auf und ab zu gehen und zu warten, wie eine Stunde lang zu tun man wohl in die Lage gerät. In größerem und großem Maßstabe kann das darum nicht vorkommen, weil dabei das Warten dermaßen verlängert und verdünnt, zugleich aber so stark mit Leben versetzt wird, daß es für lange Zeitstrecken überhaupt der Vergessenheit anheimfällt, das heißt: ins Unterste der Seele zurücktritt und nicht mehr gewußt wird. Darum mag eine halbe Stunde reinen und bloßen Wartens gräßlicher sein und eine grausamere Geduldsprobe als ein Wartenmüssen, das in das Leben von sieben Jahren eingehüllt ist. Ein nah Erwartetes übt, eben vermöge seiner Nähe, auf unsere Geduld einen viel schärferen und unmittelbareren Reiz aus als das Ferne, es verwandelt sie in nerven- und muskelzerrende Ungeduld und macht Kranke

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