Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)
nach Auslegung geradezu schrieen. Zu Hause hätten sie jeder einen eigenen Traumdeuter gehabt, gewiegte Experten für allerlei Ausgeburten der Nacht, mit Augen für jede Einzelheit eines Gesichtes, dem ein Anspruch auf Bedeutung und Vorbedeutung anzumerken gewesen sei, ausgestattet überdies mit den besten Traum-Katalogen und -Kasuistiken babylonischer sowohl wie einheimischer Herkunft, worin sie nur hätten nachzuschlagen brauchen, wenn ihnen selbst die Idee ausgegangen wäre. Notfalls, in schwer zu erschließenden und nicht dagewesenen Fällen, hätten sie, die Herren, ein Consilium von Tempel-Propheten und Schriftgelehrten zusammenrufen können, das mit vereinten Kräften der Sache bestimmt auf den Grund gekommen wäre. Kurzum, in jedem Falle seien sie prompt, zuverlässig und herrschaftlich bedient worden. Aber nun und hier?! Da hätten sie nun geträumt, ein jeder seinen besonderen, höchst auffallend betonten und eigentümlich gewürzten Traum, von dem ihm die Seele voll sei, und niemand sei da, in dieser verfluchten Grube, der ihnen die Träume deute und sie bediene, wie sie’s gewohnt seien. Das sei eine Entbehrung, weit härter als die von Daunen, Gansbraten und Vogeljagd, und lasse sie ihre unleidliche Reduziertheit recht bis zu Tränen empfinden.
Joseph hörte ihnen zu und schob die Lippen ein wenig empor.
»Ihr Herren«, sagte er, »wenn es euch für den Anfang tröstlich sein kann, daß jemand euch euren Kummer nachfühlt, so seht in mir Einen, der das tut! Überdies aber könnte dem Mangel, der euch bedrückt und beleidigt, allenfalls abzuhelfen sein. Ich bin als euer Diener und Pfleger bestellt und bin sozusagen für alles da, warum nicht auch schließlich für Träume? Ich bin nicht ganz unbewandert auf diesem Gebiet und darf mich einer gewissen Familiarität mit Träumen rühmen – nehmt das Wort nicht für ungut, nehmt es für zutreffend, denn in meiner Familie und Sippe ist allezeit viel und anzüglich geträumt worden. Mein Vater, der Herdenkönig, hatte an bestimmter Stelle, auf Reisen, einen Traum ersten Ranges, der sein ganzes Wesen für immer mit Würde gefärbt hat, und von dem ihn erzählen zu hören ein außerordentliches Vergnügen war. Und ich selbst hatte in meinem Vorleben so viel mit Träumen zu tun, daß ich unter meinen Brüdern sogar einen Necknamen hatte, der auf diese Eigenheit gutmütig anspielte. Ihr habt im Vorliebnehmen so große Übung gewonnen – wie wäre es, wenn ihr mit mir vorlieb nähmet und mir eure Träume erzähltet, daß ich versuche, sie euch zu deuten?«
»Ja, aber!« sagten sie. »Alles gut. Du bist ein freundlicher Jüngling und hast auch eine Art, mit deinen hübschen, ja schönen Augen schleierig in eine Weite zu blicken, da du von Träumen sprichst, daß wir beinahe Vertrauen fassen könnten in deine Fähigkeit, uns auszuhelfen. Bei alledem aber ist es doch zweierlei, zu träumen und Träume zu deuten! «
»Sagt das nicht«, erwiderte er. »Sagt es nicht ohne Weiteres! Mit der Träumerei möchte es wohl ein Rundes und Ganzes sein, worin Traum und Deutung zusammengehören und der Träumer und Deuter nur scheinbar Zweie und unvertauschbar, in Wirklichkeit aber vertauschbar und geradezu Ein und Derselbe sind, denn sie machen zusammen das Ganze aus. Wer da träumt, der deutet auch, und wer da deuten will, der muß geträumt haben. Ihr habt unter sehr üppigen Umständen überflüssiger Geschäftsteilung gelebt, Herr Fürst des Brotes und Exzellenz Erzschenk, sodaß ihr träumtet und die Deutung eurer Hauspropheten Sache sein ließet. Im Grunde aber und von Natur ist jedermann seines Traumes Deuter, und nur aus Eleganz läßt er sich mit der Deutung bedienen. Ich will euch das Geheimnis der Träumerei verraten: die Deutung ist früher als der Traum, und wir träumen schon aus der Deutung. Wie käme es auch sonst, daß der Mensch es ganz wohl weiß, wenn der Deuter ihm falsch deutet, und daß er ruft: ›Pack dich, du Stümper! Ich will einen anderen Deuter haben, der mir Wahrheit deutet!‹ Nun denn, versucht es mit mir, und wenn ich stümpere und euch nicht nach dem eigenen Wissen deute, so jagt mich davon mit Schimpf und Schande!«
»Ich will nicht erzählen«, sagte der Oberbäcker. »Ich bin es besser gewöhnt und ziehe es vor zu darben, wie in allen Stücken, so auch in diesem, ehe daß ich dich Unbestallten zum Deuter nähme!«
»Ich will erzählen!« sagte der Mundschenk. »Denn wahrlich, ich bin so begierig nach Deutung, daß ich mit dem
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