Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)
die Ordnung euerer Geburt, die ich mühelos daraus ablas. Ein gut Teil meiner Klugheit, ziemlich alles, was über den Durchschnitt hinausgeht, kommt von dem Becher. Das binde ich natürlich nicht jedem auf die Nase, aber da du mein Gast bist und mein Tischnachbar, so vertraue ich es dir an. Du glaubst es nicht, aber das Ding läßt mich ferne Stätten im Bilde sehen, wenn ich es richtig handhabe, nebst dem, was sich einst dort abspielte. Soll ich dir deiner Mutter Grab beschreiben?«
»Du weißt, daß sie tot ist?«
»Das haben mir deine Brüder erzählt, daß sie früh nach Westen ging, die Liebliche, deren Wange duftete wie das Rosenblatt. Ich mache dir nicht vor, daß ich diese Kunde auf übernatürlichem Wege empfing. Aber nun brauche ich nur den Becher des Schauens an meine Stirn zu führen – siehst du, so – und mir dabei vorzunehmen, deiner Mutter Grab zu sehen, so sehe ich’s augenblicklich in solcher Klarheit, daß ich mich selber wundere. Aber die Klarheit kommt von der Morgensonne, in der mir das Bild erscheint, und sind da Berge und eine Stadt auf einem Berge im Morgenstrahl, garnicht weit, es ist nur ein Feldweg bis dahin. Da sind Ackerfeldchen zwischen dem Steingeröll und sind Weinhügel rechter Hand und eine Mauer davor, ohne Mörtel gebaut. Und an der Mauer wächst ein Maulbeerbaum, alt schon und hohl zum Teil, dessen sich neigenden Stamm man mit Steinen gestützt hat. Deutlicher hat nie einer einen Baum gesehen, als ich den Maulbeerbaum sehe, und wie der Morgenwind spielt in seinem Laube. Neben dem Baum aber ist das Grab und der Stein, den sie dort aufgestellt zum Gedenken. Und siehe, Einer kniet an der Stätte und hat Zehrung hingestellt, Wasser und Süßbrot, – dem muß der Reise-Esel gehören, der unterm Baum wartet, so ein nettes Geschöpf, weiß, mit redenden Ohren, und die Stirnmähne wächst ihm in die freundlichen Augen. Ich hätte selbst nicht gedacht und es dem Becher nicht zugetraut, daß er’s mir zeigen werde dermaßen deutlich. Ist es deiner Mutter Grab oder nicht?«
»Ja, ihres«, antwortete Benjamin. »Aber ich bitte dich, Herr, siehst du denn nur den Esel genau und nicht auch den Reiter?«
»Den sehe ich womöglich noch deutlicher«, erwiderte jener, »aber was ist daran zu sehen? Das ist eher ein Fant, siebzehnjährig zur Not, wie er da kniet und opfert. Hat sich einen bunten Staat umgetan, der Gimpel, mit eingewobenen Bildern, und ist albern im Kopf, denn er denkt, er fährt so dahin auf einen Spazierritt, fährt aber in sein Verderben, und nur ein paar Tagereisen von diesem Grabe wartet sein eigenes auf ihn.«
»Es ist mein Bruder Joseph«, sagte Benjamin, und seine grauen Augen füllten sich bis zum Überfließen mit Tränen.
»O vergib!« bat sein Nachbar erschrocken und setzte den Becher ab. »Dann hätte ich nicht so wegwerfend von ihm geredet, wenn ich gewußt hätte, daß es dein verlorener Bruder ist. Und was ich vom Grabe sagte, nämlich von seinem, das darfst du so schwer nicht nehmen, nicht übertrieben ernst. Das Grab ist freilich ein ernstes Loch, tief und dunkel; aber seine Kraft, zu halten, ist wenig bedeutend. Es ist leer von Natur, mußt du wissen, – leer ist die Höhle, wenn sie der Beute wartet, und kommst du hin, wenn sie sie eingenommen, so ist sie wieder leer, – der Stein ist abgewälzt. Ich sage nicht, daß sie des Weinens nicht wert ist, die Grube, sogar schrill klagen soll man zu ihren Ehren, denn sie ist da, eine ernste, tieftraurige Einrichtung der Welt und der Festgeschichte in ihren Stunden. Ich gehe so weit, zu sagen, daß man aus Ehrerbietung gegen das Loch sich garnicht das Wissen um seine natürliche Leerheit und seine Unkraft zu halten soll anmerken lassen. Das wäre unartig gegen eine so ernste Einrichtung. Schrill soll man weinen und jammern und nur ganz unter der Hand versichert sein, daß es gar keine Niederfahrt gibt, der nicht ihr Zubehör folgte, das Auferstehn. Was wäre denn das für ein Bruchstück und für eine Halbheit von Festgeschichte, die nur bis zur Grube reichte, und dann wüßt’ sie nicht weiter? Nein, die Welt ist nicht halb, sondern ganz, und ein Ganzes das Fest, und Getrostheit, unverbrüchliche, ist in dem Ganzen. Darum laß dich’s nicht weiter anfechten, was ich von deines Bruders Grab sagte, sondern sei getrost!«
Damit nahm er Benjamins Arm beim Handgelenk, hob ihn ein wenig auf und fächelte mit der losen Hand in der Luft, daß sie einen Wind machte.
Nun entsetzte der Kleine sich ganz und gar. Die
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