Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)
vordersten Wagen, über den Stangenfächer stiegen. So kam es heran und nahm seine Größe an, und vor den Augen derer, auf die es zukam, trennten sich seine Gestalten. Jaakob aber, der schaute, die Greisenhand über den Augen, rief seiner Söhne einen, der wieder bei ihm stand, und sprach:
»Juda!«
»Hier bin ich, Vater«, antwortete der.
»Wer ist der Mann von mäßiger Leibesstärke«, fragte Jaakob, »gekleidet in die Vornehmheit dieser Welt, der eben herabtritt von seinem Wagen und von dem Goldkorbe seines Wagens, und sein Halsschmuck ist als wie der Regenbogen und sein Kleid durchaus wie das Licht des Himmels?«
»Das ist dein Sohn Joseph, Vater«, erwiderte Juda.
»Ist er es«, sprach Jaakob, »so will ich aufstehen und ihm entgegengehen.«
Und obgleich Benjamin und die anderen ihn hindern wollten, bevor sie ihm halfen, verließ er mit würdiger Mühsal den Tragstuhl und ging allein, mehr als sonst aus der Hüfte lahmend, denn absichtlich übertrieb er sein Ehrenhinken, auf den Kommenden zu, der seinen Schritt überstürzte, um ihm den Weg zu kürzen. Die lächelnden Lippen des Mannes bildeten das Wort »Vater«, und er hielt seine Arme offen; Jaakob aber streckte die seinen geradeaus vor sich hin, wie wohl ein tastender Blinder tut, und bewegte die Hände daran wie in verlangendem Winken und doch wie in Abwehr auch wieder; denn da sie zusammentrafen, ließ er es nicht geschehen, daß Joseph ihm um den Hals fiel und sein Gesicht an seiner Schulter barg, wie er wollte, sondern hielt ihn von sich ab bei den Schultern, und seine müden Augen forschten und suchten bei schräg zurückgelegtem Haupt lange und dringlich mit Leid und Liebe in dem Gesicht des Ägypters und erkannte ihn nicht. Es geschah aber, daß dessen Augen sich bei dem Anschauen langsam und bis zum Überquellen mit Tränen füllten; und wie ihre Schwärze in Feuchte schwamm, siehe, da waren es Rahels Augen, unter denen Jaakob in Traumfernen des Lebens die Tränen hinweggeküßt, und er erkannte ihn, ließ sein Haupt sinken an die Schulter des Verfremdeten und weinte bitterlich.
Sie standen allein und für sich auf dem Plan, denn die Brüder hielten sich scheu zurück von ihrer Begegnung, und auch die Gefolgsleute Josephs, sein Marschall, die Stallmeister zu Wagen, die Läufer und Fächerträger, nebst allerlei Neugierigen des nahen Städtchens, die mitgerannt waren, verharrten in Abstand.
»Vater, verzeihst du mir?« fragte der Sohn, und was meinte er nicht alles mit dieser Frage – daß er mit ihm umgesprungen war und hatt’ es ihm eingebrockt; Lieblings-Übermut und heillose Schlingelei, sträflich Vertrauen und blinde Zumutung, hundert Narrheiten, für die er gebüßt mit dem Schweigen der Toten, da er gelebt hatte hinter dem Rücken des mit ihm büßenden Alten. »Vater, verzeihst du mir?«
Jaakob richtete sich mit wiedergewonnener Fassung von seiner Schulter auf.
»Gott hat uns verziehen«, antwortete er. »Du siehst es ja, denn er hat dich mir wiedergegeben, und Israel mag nun selig sterben, da du mir erschienen bist.«
»Und du mir«, sagte Joseph, »Väterchen – darf ich dich wieder so nennen?«
»Wenn es dir genehm wäre, mein Sohn«, antwortete Jaakob formell und neigte sich, so alt und würdig er war, sogar ein wenig vor dem jungen Mann, »so würde ich vorziehen, daß du mich ›Vater‹ nenntest. Unser Herz halte sich ernsthaft und schäkere nicht.«
Joseph verstand vollkommen.
»Ich höre und gehorche«, sagte er und neigte sich ebenfalls. – »Nichts von Sterben jedoch!« setzte er heiter hinzu. »Leben, Vater, wollen wir miteinander, jetzt wo die Strafe verbüßt und die lange Karenz beendet!«
»Bitter lang war sie«, nickte der Alte, »denn Sein Zorn ist gar wütig und Sein Grimm eines gewaltigen Gottes Grimm. Siehe, Er ist so groß und gewaltig, daß Er nur dergleichen Zorn hegen kann, keinen geringeren, und straft uns Schwächlinge, daß unser Heulen herausfährt wie Wasser.«
»Es wäre begreiflich«, meinte Joseph gesprächhaft, »wenn Er’s vielleicht nicht so abmessen könnte in Seiner Größe und könnte sich, der nicht Seinesgleichen hat, nicht recht versetzen in unsereinen. Mag sein, Er hat eine etwas schwere Hand, sodaß Seine Berührung gleich zermalmend ist, ob Er’s schon garnicht so meint und nur stupfen und tupfen will.«
Jaakob konnte sich eines Lächelns nicht enthalten.
»Ich sehe«, versetzte er, »mein Sohn hat sich seinen reizvollen Gottesscharfsinn bewahrt von ehedem, auch unter
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