Josephus- Trilogie. Der jüdische Krieg / Die Söhne / Der Tag wird kommen.
wartete.
Bald schon wird die gute Jahreszeit zu Ende sein, bald schon wird der Winter die Schiffahrt unmöglich machen. Wenn der Großdoktor zurück will nach seinem Judäa, muß er die Reise rüsten.
Er rüstete sie nicht. Es kümmerte ihn nicht, daß sein langes Bleiben allgemach befremdlich wirkte, ja anstößig. Mit keinem Wort verriet er, wie sehr ihn das Verhalten des Kaisers wurmte, die freche Mißachtung, welche der Mann in seiner Person der Judenheit bezeigte. Fürstlich und liebenswürdig wie bisher hielt er hof.
Die Sitte hätte verlangt, daß Josef dem Großdoktor einen Besuch abstattete. Johann von Gischala suchte ihn dazu zu bewegen; doch Josef blieb fern. Er hatte in Judäa erleben müssen, zu welcher Grausamkeit zuweilen diesen Erzpriester der Judenheit sein Amt zwang, und wiewohl sein Verstand diese Härte billigte, lehnte sein Herz sie ab.
Gamaliel, die Kränkung nicht achtend, bat ihn zu sich.
Der Großdoktor war in den sechs Jahren, die ihn Josef nicht gesehen hatte, sehr gealtert. In seinem kurzen, rotbraunen Bart, der viereckig, kantig geschnitten, Mund und Kinn mehr zur Schau stellte als versteckte, zeigten sich graue Haare, und wenn der stattliche, kräftige Herr sich nicht beobachtet glaubte, dann erschlaffte ihm wohl zuweilen der Körper, die gewölbten braunen Augen verloren ihr Strahlen, das starke Kinn seine Straffheit.
Gamaliel nahm, als hätte sich inzwischen nichts ereignet, das Gespräch da auf, wo man es vor sechs Jahren beendet hatte. »Welch ein Jammer«, fing er an, »daß Sie damals meine Bitte zurückgewiesen haben, in Cäsarea und in Rom unsere Außenpolitik zu vertreten. Wir haben viele Köpfe von ungewöhnlicher Intelligenz unter uns, aber wenige, die einem Manne helfen können, der verurteilt ist, die Politik der Juden zu machen. Ich bin sehr allein, mein Josef.« – »Ich glaube«, antwortete Josef, »ich habe damals recht getan. Der Auftrag, mit dem Sie mich betrauen wollten, verlangte gleichzeitig Härte und Geschmeidigkeit. Ich habe nicht das eine noch das andere.«
Gamaliel behandelte ihn auch diesmal wie einen Vertrauten. Mit keiner Silbe ließ er den Josef merken, daß dessen Ansehen in der Zwischenzeit abgenommen hatte. Vielmehr sprach er zu ihm wie zu einem gleichberechtigten Führer der Juden. Er warb um ihn, er tat geradezu, als habe er ihm Rechenschaft abzulegen über seine Politik.
Er versuchte zu erweisen, daß der grausame Schnitt, mit dem er damals die Minäer von den Juden abgetrennt hatte, gerechtfertigt worden sei durch die Entwicklung. »Was wir brauchten«, erklärte er, »war Klarheit. Heute haben wir sie. Es gibt heute, außer dem Glauben an Jahve natürlich, ein einziges Kriterium, das darüber entscheidet, ob einer zu uns gehört oder nicht, ob einer Jude ist oder nicht. Dieses Kriterium ist der Glaube, daß der Messias erst in Zukunft kommen wird. Wer glaubt, daß der Messias bereits erschienen sei, wer also die Hoffnung aufgibt auf die Wiedergeburt Israels, wer auf die Wiedererrichtung Jerusalems und des Tempels verzichtet, mit einem solchen haben wir nichts gemein. Ich gestehe es Ihnen offen, mein Josef, ich halte dafür, die Leiden, mit denen Gott uns schlug, haben uns Gewinn gebracht. Die Prüfung hilft uns scheiden zwischen denen, die stark genug sind, weiter zu hoffen, und jenen Weichlingen, die sich versinken lassen in dem Opfer, das ihr gekreuzigter Messias für sie gebracht haben soll. Mögen die Minäer mit ihrem süßen und verlockenden Evangelium neue Anhänger gewinnen. Ich trauere keinem nach, der zu ihnen stößt, er war niemals ein Jude. Der Jahve der Minäer, dieser sogenannte Jahve der ganzen Welt, ist heute nicht zu retten, wir müssen auf ihn verzichten. Wir können keinen Gott brauchen, der sich verflüchtigt, sowie man ihn greifen, sowie man sich an ihn halten will. Durch die Bräuche und das Gesetz retten wir wenigstens den Jahve Israels.«
Ach, Josef kannte dieses Leid. Er hatte es hundertmal erfahren, daß ein Mann, der Politik treiben will, seine Wahrheit mit vielen Lügen legieren muß. »Wer die Idee nicht nur verkündet«, hörte er denn auch den Großdoktor sagen, »wer für sie handelt, der muß ihr etwas abhandeln. Wer schreibt, braucht nur Kopf und Finger; wer in die Welt des Tuns gestellt ist, bedarf der Faust.« Nein, er, Josef, hat recht daran getan, wenn er sich
zurückgezogen hat in die Betrachtung.
»Wir müssen unser Jabne retten!« kam unvermittelt, heftig
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