Josephus- Trilogie. Der jüdische Krieg / Die Söhne / Der Tag wird kommen.
der Großdoktor zur Sache. »Mag man über meine Politik denken, wie man will: aber Jabne müssen wir retten! Es wäre zu Ende mit den Juden, Jahve verschwände aus dieser Welt, wenn es die Einundsiebzig von Jabne nicht mehr gäbe. Ist das Gotteslästerung?« fragte er sich selber, erschreckt, daß er sein Inneres so freimütig vor Josef hingestellt hatte. »Aber in seinem Herzen, glaube ich, denkt jeder Jude so«, beruhigte er sich.
Josef sah das offene, dunkelhäutige, energische Gesicht des Mannes. Der war bestätigt durch den Erfolg. Sein wilder Tatwille hatte es erreicht, Jahve mittels einer lächerlichen, kleinen Universität in Judäa festzuhalten. Der Großdoktor hatte Jerusalem durch sein Jabne ersetzt, den Tempel durch sein Lehrhaus, das Synhedrion durch sein Kollegium. Nun war eine neue Zuflucht da, und erst wer Jabne zerschlug, zerschlug das Judentum.
Gamaliel sprach jetzt ganz beiläufig, im Ton leichten Gespräches. »Vor Ihnen, mein Josef«, meinte er, »darf ich das Kind ruhig beim Namen nennen. Natürlich ist das Lehrhaus und das Kollegium von Jabne im gleichen Grad eine politische Institution wie eine religiöse. Wir legen es geradezu darauf an, die Lehre mit Politik zu durchtränken. In unserer Eigenschaft als Kommentatoren der Lehre haben wir es nicht zur Kenntnis genommen, daß der Tempel zerstört ist und daß der Staat nicht mehr existiert. Wir führen die Debatten über die einzelnen Verrichtungen des Tempeldienstes mit der gleichen Beflissenheit wie die über die realen Verrichtungen unseres täglichen Lebens, und wir räumen ihnen den gleichen Platz ein. Wir diskutieren mit der gleichen Hitze Fragen aus jenen Gebieten der Rechtsprechung, die uns entzogen sind, wie Fragen aus dem Ritual, dessen Festsetzung uns erlaubt ist. Ja, es nehmen jene Fragen in unserem Lehrprogramm einen breiteren Raum ein als diese. Sollen die Römer versuchen, uns nachzuweisen, wo die Theorie endet und die praktische Rechtsprechung beginnt, wo die Theologie aufhört und die Politik beginnt! Was wir treiben, ist nichts als Theologie. Wenn es jemand vorzieht, statt der kaiserlichen Gerichte das Lehrhaus in Jabne anzurufen, ist das nicht seine private Angelegenheit? Ist es nicht unsere Pflicht, ihm Auskunft zu geben, wenn er uns fragt, wie sich seine Sache vom Standpunkt der Lehre aus ansieht? Und wenn er sich unserer Entscheidung fügt, sollen wir ihn abhalten? Wir können ihn weder dazu zwingen noch es ihm verbieten. Vielleicht, wahrscheinlich tut er es, um sein Gewissen zu beruhigen. Wir wissen es nicht, uns sind seine Motive nicht bekannt. Sie gehen uns nichts an. Auf keinen Fall haben unsere Entscheidungen etwas zu tun mit der Rechtsprechung des Senats und Volks von Rom. Wir beschränken uns auf unser Ressort, auf die Theologie, auf die Lehre, auf das Ritual.« Seine vollen Lippen, seine großen, auseinanderstehenden Zähne lächelten listig aus dem viereckigen Bart heraus.
Dann aber verschwand dieses Lächeln, er sprang auf, seine Augen begannen zu glühen und: »Sagen Sie selber, Doktor Josef«, rief er, und seine Stimme belebte sich, »sagen Sie selber, ist es nicht großartig, ist es nicht ein Wunder, daß ein Volk, ein ganzes Volk, eine so ungeheure Disziplin übt? Daß es sich neben dem von einer fremden Macht eingesetzten Gerichtshof, dem es sich beugen muß, einen freiwilligen schafft, dem es sich beugt aus dem Drang seines Herzens? Daß es neben den hohen Steuern, die der Kaiser ihm auspreßt, freiwillige Steuern zahlt, um sich seinen Gott als Kaiser zu erhalten? Ist solche Selbstzucht nicht etwas Großes, Herrliches, Einmaliges? Ich finde unser jüdisches Volk, ich finde diesen wilden Drang, weiter zu existieren, sich nicht unterkriegen zu lassen, das Erhabenste, Wunderbarste, was es auf dieser arm und dunkel gewordenen Erde gibt.«
Josef sah die Begeisterung des Mannes, sie riß ihn mit. Aber seine Vorbehalte riß sie nicht nieder. Es war eine gewaltige Leistung, die da vollbracht war, man hatte mit bewundernswertem Scharfsinn und höchster Energie ein Gefäß geschaffen, den zerrinnenden Geist zu halten. Aber nun war eben der Geist eingesperrt in ein Gefäß, das bedeutete Verengung, Verzicht, Preisgabe, und das Preisgegebene war Josef sehr teuer.
»Die Römer also«, fuhr Gamaliel fort, wieder leicht und heiter, »wittern natürlich das Gefährliche, Aufrührerische, das hinter unserer Universität Jabne steckt. Allein«, und jetzt war sein ganzes Gesicht wieder eine einzige
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