Josepsson, Aevar Örn
doch, dass ich nicht zu denen gehöre, die früh ins Bett gehen. Nimm Platz.«
Úlfur blickte sich unschlüssig um. »Hör mal, du hast nicht zufällig noch ein paar Tropfen für mich übrig? Bei mir zu Hause ist total Ebbe, ich hab nicht drangedacht, das Zeug …«
»Nun schenk dir schon einen ein, Junge. Du weißt ja, wo ich das aufbewahre. Im Kühlschrank ist Tonic, kaltes Wasser ist im Kran, und Eiswürfel sind im Eisfach. Aber Zitrone gibt es nicht«, fügte er entschuldigend hinzu, »die hab ich glatt vergessen.«
»Macht nix«, erklärte Úlfur erleichtert und ging in die Küche.
»Ich hatte dich gar nicht erwartet«, rief Ólafur hinter ihm her. »Ich dachte, du würdest mindestens bis morgen Abend in diesem Ferienhaus bleiben – hast du das nicht gesagt? Und wo ist Tinna?«
»Die ist noch dageblieben«, rief Úlfur zurück, »zusammen mit den Kindern. Ich hatte bloß keine Lust, da noch länger rumzuhängen.« Nun kehrte er mit einem Glas in der Hand ins Wohnzimmer zurück. »Prost«, sagte er mit gespielter Fröhlichkeit. »Prost auf die Freiheit.«
»Auf die Freiheit«, stimmte Ólafur zu und leerte sein Glas. »Bist du so nett und mixt mir auch noch einen, lieber Freund?« Úlfur streckte die Hand aus und nahm das Glas seines Gastgebers entgegen.
»Kein Problem.«
»Zwischen euch beiden gibt’s wohl wieder Probleme?«, erkundigte sich Ólafur.
»Nicht mehr als gewöhnlich«, seufzte Úlfur und füllte Ólafurs Glas auf, er hatte in weiser Voraussicht die Flaschen mit Gin und Tonic mit ins Wohnzimmer gebracht. »Aber ich hab echt keine Lust, jetzt darüber zu reden. Diese Weiber«, sagte er und reichte Ólafur das Glas, »du weißt ja, wie die sind.«
»Ja«, sagte Ólafur und nickte verständnisvoll, »das weiß ich leider nur zu genau. Aber weißt du, mein lieber Freund, sobald du IHM dein Herz öffnest und IHN hereinlässt, IHM gestattest, dich mit seinem Heiligen Geist zu erfüllen …«
Úlfur hörte nicht mehr hin, sondern nickte nur ab und zu mal mit dem Kopf, während er sein Glas so schnell wie möglich leerte, ohne es jedoch direkt in einem Zug runterzukippen.
»Könnte nicht einverstandener sein«, erklärte er schließlich und stand auf. »Also ich will dich nicht länger stören, du hast dir was im Fernsehen angeschaut, und ich geh jetzt lieber …«
»Nein, nein, nein, Úlfur, du störst doch gar nicht – überhaupt nicht!« Ólafur tastete nach der Fernbedienung und beeilte sich, den Fernseher auszuschalten. »Du bist doch gerade erst gekommen, Mensch, komm, jetzt setz dich wieder. Möchtest du nicht noch ein Gläschen?«
Úlfur grinste verlegen. »Doch ja, gern, aber verstehst du, ich muss noch … Ach, du weißt schon, ich hatte meinem Bruder versprochen, nach ihm zu schauen, sobald ich wieder in der Stadt wäre, der ist mal wieder in der Krise. Das verstehst du doch, Óli? Ist man nicht der Hüter seines Bruders?«
Ein mattes Lächeln umspielte Ólafurs Lippen. »Doch, das ist richtig, da hast du völlig Recht«, murmelte er. »Man ist der Hüter seines Bruders.« Die Enttäuschung war ihm anzusehen und anzuhören. Es fehlte nicht viel, und Úlfur hätte Gewissensbisse bekommen. Er knirschte mit den Zähnen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Hör mal, Óli, ich hab gesehen, dass du noch ganz nette Vorräte hast. Könntest du mir nicht bis Dienstag ein paar Tropfen leihen?«
Er griff nach der halb vollen Ginflasche und hielt sie mit fragender Miene seinem Gastgeber unter die Nase. Ólafur sah ihn aus traurigen Hundeaugen an, aber Úlfur ging nicht darauf ein.
»Ja, doch, du kannst das gerne mitnehmen«, sagte Ólafur schließlich, und Úlfur atmete auf. »Aber du musst dann auch endlich mal mit mir zu einer Versammlung gehen, einverstanden? Und bring doch auch Tinna mit und die Kinder! Ich weiß, dass euch das wirklich helfen würde, wirklich sehr helfen würde. Am Dienstag ist wieder Versammlung, was meinst du dazu?«
»Man kann nie wissen«, antwortete Úlfur wie gewöhnlich, »ich melde mich. Und vielen Dank …« Er schwenkte noch einmal die Flasche, drehte sich auf dem Absatz um und beeilte sich, aus der Wohnung herauszukommen. Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und ging so entschlossenen Schritts zum Aufzug, dass es im hellhörigen Korridor widerhallte. Er drückte auf den Knopf, wartete auf den quietschenden Aufzug, ging kurz hinein, um auf den Knopf fürs Erdgeschoss zu drücken, und huschte sofort wieder hinaus. Er zog die Schuhe
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