Joyland
wir beide wissen das –, aber er bleibt trotzdem dort wohnen. Ich weiß also so ungefähr, was Sie meinen.«
»Das tut mir leid«, sagte Mrs. Shoplaw. »Irgendwann reiße ich mal die Klappe zu weit auf und plumpse hinein. Ihr Bus fährt um zehn nach fünf, stimmt's?«
»Ja.«
»Na, dann kommen Sie mit in die Küche. Ich richte Ihnen einen Käsetoast und mach Ihnen in der Mikrowelle einen Teller Tomatensuppe warm. Sie haben noch Zeit. Und während Sie essen, erzähle ich Ihnen die traurige Geschichte von dem Gespenst von Joyland, wenn Sie sie hören wollen.«
»Ist das wirklich eine Gespenstergeschichte?«
»Ich war nie in der verfluchten Geisterbahn, also kann ich das nicht mit Gewissheit sagen. Aber eine Mordgeschichte ist es auf jeden Fall. Das weiß ich ganz bestimmt.«
*
Die Suppe stammte lediglich aus einer Campbell's-Dose, aber der Toast war mit Muenster überbacken, meiner Lieblingskäsesorte, und schmeckte himmlisch. Sie schenkte mir ein Glas Milch ein und bestand darauf, dass ich es austrank. Schließlich sei ich, so sagte sie, ein Junge im Wachstumsalter. Sie setzte sich mir gegenüber und aß einen Teller Suppe, aber keinen Toast (»ich muss auf meine mädchenhafte Figur achten«), und erzählte mir ihre Geschichte. Manches davon hatte sie aus der Zeitung und aus Fernsehberichten. Die pikanteren Einzelheiten stammten von ihren Bekannten in Joyland, und da gab es eine ganze Menge.
»Das war vor vier Jahren, also etwa zu der Zeit, als auch Ihre Mutter gestorben ist. Wissen Sie, was mir immer als Erstes einfällt, wenn ich daran denke? Das Hemd von dem Kerl. Und die Handschuhe. Und dann bekomme ich eine Gänsehaut. Weil das bedeutet, dass er alles geplant hatte.«
»Fangen Sie immer mittendrin an?«, fragte ich.
Mrs. Shoplaw lachte. »Ach, sieht fast so aus. Das Gespenst oder was die Leute dafür halten, heißt Linda Gray, und sie stammte aus Florence. Das ist drüben in South Carolina. Sie und ihr Freund – wenn er das denn war; die Polizei hat ihre Vorgeschichte äußerst gründlich unter die Lupe genommen und keine Spur von ihm gefunden – haben ihre letzte Nacht auf Erden im Luna Inn verbracht, eine halbe Meile südlich von hier den Strand runter. Am nächsten Tag sind sie um elf in Joyland eingelaufen. Er hat zwei Tagespässe gekauft und bar bezahlt. Sie sind mit ein paar Sachen gefahren und haben dann im Rock Lobster zu Mittag gegessen, dem Fischrestaurant neben der Konzerthalle. Das war um kurz nach eins. Was den Zeitpunkt ihres Todes betrifft – Sie wissen wahrscheinlich, wie der festgestellt wird … der Mageninhalt und dergleichen …«
»Yeah.« Meinen Toast hatte ich verspeist, und jetzt wandte ich mich der Suppe zu. Die Geschichte tat meinem Appetit keinen Abbruch. Schließlich war ich einundzwanzig, und auch wenn ich das nicht zugegeben hätte, hielt ich mich doch für unsterblich. Nicht einmal der Tod meiner Mutter hatte diese Überzeugung erschüttern können.
»Erst hat er sie zum Essen eingeladen, dann sind sie mit dem Carolina Spin gefahren – das dreht sich hübsch langsam, was gut für die Verdauung ist. Und schließlich war das Horror House an der Reihe. Sie sind zusammen reingegangen, aber rausgekommen ist nur er. Ungefähr auf der Hälfte der Fahrt, die ungefähr neun Minuten dauert, hat er ihr die Gurgel durchgeschnitten und sie neben das Gleis der Einschienenbahn geworfen. Wie man Abfall wegschmeißt, ganz genau so. Er muss vorher gewusst haben, dass Blut fließen würde, jedenfalls hatte er zwei Hemden übereinander getragen, und er hatte gelbe Arbeitshandschuhe angezogen. Das obere Hemd, das am meisten abbekommen hat, wurde rund dreißig Meter hinter der Leiche gefunden. Und wieder ein Stück weiter die Handschuhe.«
Ich konnte es buchstäblich vor mir sehen: erst die Leiche, die noch warm war, dann das Hemd, dann die Handschuhe. Der Mörder bleibt sitzen und fährt weiter. Mrs. Shoplaw hatte recht – das war gruselig.
»Hinterher ist der Schweinehund einfach ausgestiegen und hat sich aus dem Staub gemacht. Vorher hat er den Wagen in der Geisterbahn ausgewischt – das Hemd, das man gefunden hat, triefte richtig –, aber er hat nicht alles Blut beseitigt. Einer der Happy Helper hat einen Fleck auf dem Sitz entdeckt, ihn aber weggeputzt, bevor die nächsten Besucher eingestiegen sind. Er hat sich nichts weiter dabei gedacht. In einem Vergnügungspark sind ein paar Tropfen Blut nichts Besonderes. Überdrehte Kinder kriegen eben manchmal Nasenbluten. Die Erfahrung
Weitere Kostenlose Bücher