Joyland
potenziellen Verdächtigen zu verwenden.«
»Lane hat gesagt, die Tölpel würden sie nie sehen.«
»Stimmt. Sie taucht immer erst auf, wenn der Park geschlossen ist. Meistens sind es Happy Helper, die sie während der Nachtschicht sehen, aber ich kenne mindestens einen Sicherheitsinspekteur aus Raleigh, der das ebenfalls behauptet. Er hat mich mal im Sand Dollar zu einem Drink eingeladen und mir erzählt, dass sie einfach so dastand, während er eine Testfahrt mit der Geisterbahn gemacht hat. Er hat sie erst für eine neue Gruselfigur gehalten, bis sie die Hände gehoben hat. So etwa.«
Mrs. Shoplaw hob die Hände, die Handflächen in einer flehentlichen Geste nach oben gedreht.
»Er hat erzählt, dass er das Gefühl hatte, die Temperatur sei um zehn Grad gesunken. Ein Kälteloch hat er das genannt. Als er sich nach ihr umgedreht hat, war sie fort.«
Ich musste an Lane denken, in seiner engen Jeans, den abgeschabten Stiefeln und mit der Melone, die ihm schief auf dem Kopf saß. Wahrheit oder Quatsch?, hatte er gefragt. Live oder Memorex? Der Geist von Linda Gray war mit großer Wahrscheinlichkeit Quatsch, aber ich hoffte trotzdem, dass es sie gab. Ich wollte sie sehen. Das wäre eine tolle Geschichte, die ich Wendy erzählen könnte, und damals führten alle meine Gedanken unweigerlich zu ihr zurück. Wenn ich ein Hemd kaufte – würde es Wendy gefallen? Wenn ich eine Geschichte über ein junges Mädchen schrieb, das auf dem Rücken eines Pferdes zum ersten Mal geküsst wurde – würde sie ihr gefallen? Wenn ich das Gespenst eines ermordeten Mädchens sah – würde das Wendy neugierig machen? Vielleicht so sehr, dass sie mich besuchen kam?
»Im Post-Courier aus Charleston wurde ein halbes Jahr nach dem Mord ein Artikel veröffentlicht, der alles noch mal zusammengefasst hat«, sagte Mrs. Shoplaw. »Wie sich herausstellte, waren in Georgia und den beiden Carolinas seit 1961 vier ähnliche Morde passiert. Alles junge Mädchen. Eines davon wurde erstochen, den anderen drei die Gurgel durchgeschnitten. Immerhin hat man einen Polizisten auftreiben können, der behauptet hat, der Kerl, der Linda Gray umgebracht habe, könne auch hinter den anderen Morden stecken.«
»Hütet euch vor dem Geisterbahnmörder!«, sagte ich mit einer tiefen Nachrichtensprecherstimme.
»Genau so haben die Zeitungen ihn genannt. Sie hatten ordentlich Hunger, was? Bis auf den Teller selbst haben Sie ja alles aufgegessen. Jetzt sollten Sie mir aber lieber schnell den Scheck ausfüllen und zusehen, dass Sie zum Busbahnhof kommen, sonst müssen Sie die Nacht noch auf meinem Sofa verbringen.«
Das Sofa sah sogar einigermaßen gemütlich aus, aber ich hatte es eilig, wieder nach Norden zu kommen. Von den Frühjahrsferien waren noch zwei Tage übrig, und dann würde ich wieder an der Uni sein, mit einem Arm um Wendy Keegans Taille.
Ich holte mein Scheckheft hervor und kritzelte etwas darauf, und schon hatte ich ein Einzimmerapartment mit einem bezaubernden Meeresblick gemietet, das Wendy Keegan – mein potenzieller Damenbesuch – nie zu sehen bekommen würde. In diesem Zimmer lag ich so manche Nacht wach, während auf meiner Stereoanlage leise Jimi Hendrix und die Doors liefen, und dachte hin und wieder über Selbstmord nach. So richtig ernst war es mir mit diesen Gedanken nie. Das waren lediglich die Fantasien eines jungen Mannes mit einem Herzleiden … jedenfalls rede ich mir das jetzt ein, viele Jahre später, aber wer weiß das schon wirklich?
Wenn es um die Vergangenheit geht, erfindet jeder Geschichten.
*
Ich versuchte, Wendy vom Busbahnhof aus zu erreichen, aber ihre Stiefmutter sagte, sie sei mit Renee unterwegs. In Wilmington versuchte ich es wieder, aber sie war immer noch mit Renee unterwegs. Ich fragte Nadine – also die Stiefmutter –, ob sie eine Ahnung hätte, wohin die beiden gegangen sein könnten. Nadine verneinte. Sie klang, als wäre ich der langweiligste Anrufer des ganzen Tages. Oder sogar des ganzen Jahres. Vielleicht sogar ihres ganzen Lebens. Mit Wendys Vater verstand ich mich ganz gut, aber Nadine Keegan gehörte eindeutig nicht zu meinen Fans.
Endlich – inzwischen war ich in Boston – erreichte ich Wendy. Sie klang müde, obwohl es erst elf Uhr war. Für die meisten Studenten begann der Tag während der Frühjahrsferien um diese Uhrzeit erst. Ich erzählte ihr, dass ich den Job bekommen hätte.
»Mensch, gratuliere«, sagte sie. »Bist du unterwegs nach Hause?«
»Ja, sobald ich in meinem Wagen
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