Joyland
erstaunliche Entwicklung war. Aber, wie mir schien, keine schlechte.
»Bist du dir sicher, dass du noch einen schaffst?«
»Einen halben vielleicht. Was ist los, Mama? Sonst erzählst du mir immer, dass frischer Joghurt gut für die Verdauung ist.«
»Ich glaube nicht, dass wir um sieben Uhr morgens über deine Verdauung sprechen müssen, Mike.« Sie stand auf und sah mich unsicher an.
»Keine Angst«, sagte Mike mit einem strahlenden Lächeln. »Wenn er mir an die Wäsche geht, hetz ich ihm Milo auf den Hals.«
Ihr schoss das Blut in die Wangen. »Michael Everett Ross! «
»Tut mir leid«, sagte er, aber seine Augen leuchteten.
»Entschuldige dich nicht bei mir, sondern bei Mr. Jones.«
»Schon gut, schon gut«, sagte ich.
»Passen Sie bitte auf ihn auf, Mr. Jones? Es dauert nicht lange.«
»Gern, wenn Sie Devin zu mir sagen.«
»Dann mach ich das.« Sie eilte den Plankenweg hinauf, blieb dann aber kurz stehen und warf einen Blick über die Schulter. Wahrscheinlich wäre sie am liebsten umgekehrt, aber letztlich war die Aussicht, ihr furchtbar dünner Sohn könne noch ein paar gesunde Kalorien zu sich nehmen, ausschlaggebend, und sie ging weiter.
Mike schaute zu, wie sie die Treppe zur Veranda auf der Rückseite des Hauses hinaufstieg, und seufzte. »Jetzt muss ich das wohl essen.«
»Na ja … schon. Du hast sie ja auch darum gebeten, oder?«
»Nur weil ich mit Ihnen reden wollte, ohne dass sie sich einmischt. Ich meine, ich hab sie wirklich lieb, aber sie mischt sich in alles ein. Als müssten wir uns schämen, weil ich krank bin.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich hab Muskelschwund, das ist alles. Deshalb sitz ich im Rollstuhl. Ich kann schon gehen, aber die Schienen und Krücken sind voll kacke.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Das ist echt übel, Mike.«
»Na ja, schon, aber ich kenn's nicht anders, also was soll's. Nur ist es eine besondere Form von Muskelschwund: die Duchenne-Krankheit. Die meisten Kinder, die das haben, kratzen schon als Teenager ab oder spätestens mit Anfang zwanzig.«
Himmel hilf – was sagt man zu einem Zehnjährigen, der einem gerade erklärt, dass er nicht mehr lange zu leben hat?
»Aber! « Er hob oberlehrerhaft den Finger. »Erinnern Sie sich, wie Mama gesagt hat, dass ich letztes Jahr krank war?«
»Mike, du musst mir das alles nicht erzählen, wenn du nicht willst.«
»Stimmt, ich möchte aber.« Er sah mich offen und ehrlich an, sein Blick hatte jedoch auch etwas Flehendes. »Sie wollen es bestimmt wissen. Vielleicht müssen Sie es sogar wissen.«
Wieder musste ich an Fortuna denken. Zwei Kinder, hatte sie mir erzählt, ein Mädchen mit einem roten Käppi und ein Junge mit einem Hund. Eines der Kinder habe ihr zufolge das zweite Gesicht, aber sie wisse nicht, welches. Ich hatte es, so glaubte ich, gerade herausgefunden.
»Mama sagt, ich bilde mir ein, dass ich mich davon erholt hätte. Klinge ich, als hätte ich mich davon erholt?«
»Du hast 'n schlimmen Husten«, sagte ich vorsichtig. »Aber sonst …« Mir fiel nichts ein, was ich noch hätte sagen können. Sonst sind deine Beine so dünn wie zwei Stecken? Sonst siehst du aus, als könnten deine Mama und ich hinten an deinem Hemd eine Schnur festbinden und dich wie einen Drachen aufsteigen lassen? Sonst – wenn ich wetten müsste, wer länger lebt, du oder Milo, dann würde ich auf den Hund setzen?
»Kurz nach Thanksgiving hab ich mir eine Lungenentzündung eingefangen, okay? Als es nach mehreren Wochen im Krankenhaus nicht besser wurde, hat der Arzt meiner Mutter erklärt, dass ich wahrscheinlich sterbe, und sie müsste sich, Sie wissen schon, darauf vorbereiten.«
Aber das hat er ihr bestimmt nicht in deiner Hörweite gesagt, dachte ich bei mir. Ein solches Gespräch würden sie nie und nimmer in deiner Gegenwart führen.
»Aber ich hab mich nicht unterkriegen lassen.« In seiner Stimme schwang Stolz mit. »Mein Großvater hat meine Mama angerufen – ich glaube, das war das erste Mal seit Langem, dass sie miteinander geredet haben. Keine Ahnung, wer ihm gesagt hat, was los ist, aber er hat überall seine Leute. Jeder könnte es ihm gesteckt haben.«
Überall seine Leute klang einigermaßen paranoid, aber ich hielt den Mund. Später fand ich heraus, dass es überhaupt nicht paranoid war. Mikes Großvater hatte seine Leute tatsächlich überall, und sie salutierten alle vor Jesus, der Flagge und der NRA, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
»Opa hat gesagt, ich hätte die
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