Joyland
Lungenentzündung überstanden, weil Gott das so wollte. Mama hat ihm erklärt, das wäre Quatsch, genauso wie seine Behauptung, mein Muskelschwund wäre eine Strafe Gottes. Sie hat gesagt, ich wäre ein verdammt zäher Brocken und Gott hätte rein gar nichts damit zu tun. Dann hat sie aufgelegt.«
Mike mochte ihre Seite des Gesprächs mitgehört haben, aber bestimmt nicht die seines Großvaters, und dass seine Mutter ihm das alles erzählt hatte, bezweifelte ich ernsthaft. Allerdings glaubte ich auch nicht, dass er sich das ausdachte. Insgeheim hoffte ich, Annie würde nicht allzu bald zurückkommen. Das war etwas völlig anderes, als Madame Fortuna zuzuhören. Meiner Meinung nach (und das glaube ich noch heute nach all den Jahren) verfügte sie über eine schwache übersinnliche Begabung, jede Menge Menschenkenntnis und Gerissenheit und wusste das glanzvoll und jahrmarktgerecht zu verpacken. Mike sah da klarer. Sein Blick war einfacher, unverstellter. Das war etwas anderes, als den Geist von Linda Gray zu sehen, aber irgendwie doch etwas Ähnliches, okay? Er streifte eine andere Welt.
»Mama hat gesagt, wir würden nie mehr hierher zurückgehen, aber jetzt sind wir doch da. Weil ich an den Strand wollte und weil ich einen Drachen steigen lassen wollte und weil ich keine zwölf werde, erst recht nicht zwanzig. Die Lungenentzündung ist schuld, verstehen Sie? Ich bekomme Kortison, und das hilft auch, aber die Lungenentzündung zusammen mit dem Muskelschwund hat dafür gesorgt, dass meine Lunge und mein Herz endgültig im Arsch sind.«
Er schaute mich mit kindlichem Trotz an, um zu sehen, wie ich auf seine vulgäre Wortwahl reagieren würde. Ich reagierte natürlich überhaupt nicht. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, das Ganze zu verarbeiten, als dass ich mir noch Sorgen um seine Ausdrucksweise gemacht hätte.
»Okay«, sagte ich. »Du willst mir also verklickern, dass ein weiterer Frucht-Smoothie nicht helfen wird.«
Er starrte mich mit offenem Mund an, warf den Kopf in den Nacken und lachte. Aus dem Gelächter wurde der schlimmste Hustenanfall, den ich bisher mitbekommen hatte. Erschrocken ging ich zu ihm hin und klopfte ihm auf den Rücken … ganz behutsam. Es fühlte sich an, als wäre da nichts außer ein paar Hühnerknochen. Milo bellte einmal und legte die Pfoten auf Mikes verkümmerte Beine.
Auf dem Tisch standen zwei Krüge, der eine mit Wasser, der andere mit frisch gepresstem Orangensaft. Mike deutete auf das Wasser, und ich schenkte ihm ein halbes Glas ein. Als ich es ihm an den Mund halten wollte, warf er mir einen verärgerten Blick zu – während er weiter von dem Hustenanfall heimgesucht wurde – und nahm es selbst. Etwas davon verschüttete er auf sein Hemd, aber das meiste landete in seinem Hals. Der Husten ließ nach.
»Das war übel«, sagte er und klopfte sich auf die Brust. »Mein Herz rast wie blöd. Verraten Sie bloß Mama nichts.«
»Himmel, Mike! Als ob sie das nicht längst wüsste…«
»Wenn Sie mich fragen, dann weiß sie zu viel«, sagte er. »Sie weiß, dass ich noch drei oder vier gute Monate habe und dann vier oder fünf wirklich schlimme. Wo ich nur im Bett liegen und nichts tun kann außer Sauerstoff lutschen und MASH und Fat Albert und die Cosby-Kids glotzen. Die einzige Frage ist, ob sie Oma und Opa Ross erlaubt, zur Beerdigung zu kommen.« Er hustete so stark, dass ihm die Tränen in die Augen schossen, was ich aber nicht mit Traurigkeit verwechselte. Er war niedergeschlagen, hatte sich aber im Griff. Gestern Abend, als der Drachen aufgestiegen war und er gespürt hatte, wie er an der Schnur zerrte, war er jünger gewesen, als es seinem Alter entsprach. Jetzt sah ich mit an, wie er sich abmühte, ein ganzes Stück älter zu sein. Das Erschreckende daran war, wie gut es ihm gelang. Er schaute mir direkt in die Augen. »Sie weiß es. Aber sie weiß nicht, dass ich es weiß.«
Die Hintertür knallte. Wir blickten hoch und sahen Annie die Veranda überqueren. Gleich hatte sie den Plankenweg erreicht.
»Warum muss ich das wissen, Mike?«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber mit Mama dürfen wir da nicht drüber reden, ja? Da wird sie immer ganz traurig. Ich bin alles, was sie hat.« Das sagte er nicht etwa voller Stolz, sondern mit schicksalsergebener Schwermut.
»In Ordnung.«
»Ach, eine Sache noch. Fast hätte ich das vergessen.« Er schaute kurz zu seiner Mutter, und als er sah, dass sie noch weit genug weg war, wandte er sich wieder mir zu. »Es
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