Joyland
würde. Sie hob die Hände und ließ sie wieder sinken: Von mir aus.
Ich sah den Jungen an. »Mike?«
»Ja?«
»Wickle die Schnur auf. Ich sag dir, wenn du aufhören sollst.«
Er folgte meiner Anweisung. Ich stapfte zu ihm hinüber, und als ich mich auf gleicher Höhe mit ihm befand, blickte ich Jesus in die Augen. »Wollen Sie sich dieses Mal bequemen zu fliegen, Mr. Christ?«
Mike lachte. Die Mama lachte nicht, aber ich sah ihre Mundwinkel zucken.
»Er sagt, er gibt sein Bestes«, erklärte ich Mike.
»Gut, denn …« Hust. Hust-hust-hust. Sie hatte recht, er war noch nicht über den Berg. Und es musste ein verdammt hoher Berg gewesen sein. »Denn bisher hat er die ganze Zeit nur Sand gefressen.«
Ich hielt mir den Drachen über den Kopf und schaute dabei in Richtung Heaven's Bay. Ich konnte spüren, wie der Wind daran zerrte. Die Plastikfolie kräuselte sich. »Mike, ich lass jetzt gleich los. Wenn ich das mache, musst du wieder die Schnur aufwickeln.«
»Aber dann wird er doch nur …«
»Nein, wird er nicht. Aber du musst auf Zack sein und genau aufpassen.« Ich ließ es schwieriger klingen, als es war, weil ich wollte, dass er sich cool und kompetent fühlte, wenn der Drachen aufstieg. Und das würde er, solange der Wind nicht plötzlich nachließ. Ich hoffte inständig, dass das nicht passieren würde, weil die Mama es offensichtlich ernst gemeint hatte, als sie sagte, ich hätte nur einen Versuch. »Glaub mir, der Drachen steigt. Und wenn er das tut, dann musst du ihm etwas Spielraum geben. Aber die Schnur muss gespannt bleiben, ja? Und wenn er sinkt…«
»Hol ich wieder Schnur ein. Schon klar. Himmel noch mal.«
»Okay. Bereit?«
»Ja!«
Milo saß zwischen der Mama und mir und schaute zum Drachen hinauf.
»Na, dann los. Drei … zwei … eins … Start!«
Der Junge saß gebückt in seinem Stuhl, und die Beine unter den kurzen Hosen waren verkümmert, aber mit den Händen war alles in Ordnung, und er konnte auch Anweisungen befolgen. Er wickelte die Schnur auf, und der Drachen stieg sofort in die Höhe. Dann ließ Mike etwas Schnur aus – am Anfang zu schnell, doch als der Drachen kippelte, glich er das sofort wieder aus. Er lachte. »Ich kann ihn spüren! Ich kann ihn in den Händen spüren!«
»Das ist der Wind«, sagte ich. »Weiter so, Mike. Noch ein Stück höher, und er steht richtig im Wind. Dann darfst du ihn nur nicht mehr loslassen.«
Er ließ die Schnur Stück für Stück aus, und der Drachen stieg immer höher in den blauen Septemberhimmel, erst über dem Strand, dann über dem Meer. Ich schaute ihm eine Weile dabei zu, und dann fiel mein Blick auf die Frau. Dieses Mal reagierte sie nicht gereizt – weil sie mich überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Sohn. Ich glaube nicht, dass ich jemals so viel Liebe und Glückseligkeit in einem Gesicht gesehen habe. Weil er glücklich war. Seine Augen leuchteten, und er hatte aufgehört zu husten.
»Mami, das fühlt sich an, als wäre er lebendig! «
Das ist er auch, sagte ich mir. Ich musste daran denken, wie mir mein Vater im Stadtpark beigebracht hatte, Drachen steigen zu lassen. Damals war ich im gleichen Alter gewesen wie Mike; allerdings hatte ich zwei gesunde Beine gehabt. Solange er dort oben ist, wo er hingehört, ist er lebendig.
»Komm her, fühl doch mal!«
Sie schritt den leicht ansteigenden Strand zum Plankenweg hinauf und blieb neben ihm stehen. Ihr Blick war auf den Drachen gerichtet, aber mit der Hand streichelte sie ihm über das dunkle Haar. »Ganz bestimmt, Schatz? Es ist dein Drachen.«
»Ja, aber das musst du einfach versuchen. Es ist unglaublich!«
Sie nahm die Haspel, die ein ganzes Stück dünner geworden war, seit wir den Drachen auf seine Reise geschickt hatten (der Drachen selbst war nur noch eine schwarze Raute; Jesu Gesicht war nicht mehr zu erkennen), und hielt sie ein Stück von sich weg. Im ersten Moment wirkte sie ein wenig beklommen. Dann lächelte sie. Als eine Windbö den Drachen erfasste und nach backbord und dann nach steuerbord tanzen ließ, wurde aus dem Lächeln ein breites Grinsen.
Nachdem sie den Drachen eine Weile gehalten hatte, sagte Mike: »Lass jetzt ihn mal.«
»Nein, das ist schon okay«, sagte ich.
Sie hielt mir die Haspel hin. »Wir bestehen darauf, Mr. Jones. Schließlich sind Sie der Flugleiter.«
Also nahm ich die Schnur, und sofort verspürte ich wieder dieselbe Begeisterung wie früher. Es fühlte sich an, als würde eine nicht zu kleine
Weitere Kostenlose Bücher