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Joyland

Titel: Joyland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Sie das ihm gegenüber nie. Darauf muss ich sogar bestehen.«
    »In Ordnung«, sagte ich. »Aber wenn Sie es sich anders überlegen…«
    Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Sie würde es sich nicht anders überlegen. Sie schaute auf ihre Armbanduhr und lächelte dann so strahlend, dass man fast hätte übersehen können, wie ausdruckslos ihre Augen dabei blieben. »Oje, wie spät es schon geworden ist! Mike hat nach der Krankengymnastik bestimmt Hunger, und ich habe noch kein Abendessen gerichtet. Entschuldigen Sie mich, bitte?«
    »Klar.«
    Da stand ich nun und schaute ihr nach, wie sie den Plankenweg zu dem grünen viktorianischen Gebäude hinaufeilte – das ich dank meiner großen Klappe wahrscheinlich nie von innen sehen würde. Aber die Vorstellung, Mike nach Joyland mitzunehmen, war mir überaus richtig vorgekommen. Im Sommer hatten uns immer wieder Gruppen von Kindern mit allen möglichen Problemen und Behinderungen besucht – gelähmte Kinder, blinde Kinder, Kinder mit Krebs, Kinder, die geistig gehandicapt waren (nur dass wir das in den noch nicht aufgeklärten Siebzigern zurückgeblieben nannten). Schließlich hatte ich nicht vor, Mike im Delirium Shaker in die vorderste Gondel zu setzen und ihn abheben zu lassen. Selbst wenn der Shaker nicht für den Winter eingemottet gewesen wäre – ich bin kein Vollidiot.
    Aber das Karussell lief noch, und damit konnte er doch bestimmt fahren. Genauso der Zug durchs Wiggle-Waggle Village. Ich war mir sicher, dass es Fred Dean auch nichts ausmachen würde, den Jungen durch Mysterio's Minor Mansion zu führen. Aber nein. Nein. Er war ihre zarte Treibhauspflanze, und sie wollte unbedingt, dass das so blieb. Die Sache mit dem Drachen war nur eine einmalige Angelegenheit gewesen und die Entschuldigung eine bittere Pille, die sie, so glaubte sie, hatte schlucken müssen.
    Trotzdem bewunderte ich, wie schnell und geschmeidig sie war – sie bewegte sich mit einer Anmut, von der ihr Sohn nur träumen konnte. Ich betrachtete ihre nackten Beine unter dem Saum ihres Rocks und dachte dabei überhaupt nicht an Wendy Keegan.
    *
    Das Wochenende hatte ich frei, und was passierte? Die landläufige Vorstellung, es würde immer am Wochenende regnen, ist bestimmt eine Illusion, aber manchmal kommt es einem wirklich so vor; man frage nur jeden Malocher, der je an seinen freien Tagen zelten oder angeln gehen wollte.
    Na schön, blieb mir immer noch Tolkien. Am Samstagnachmittag saß ich in meinem Sessel am Fenster und stieg mit Frodo und Sam immer höher in die Berge von Mordor hinauf, als Mrs. Shoplaw an die Tür klopfte und fragte, ob ich Lust hätte, ins Wohnzimmer runterzukommen und mit ihr und Tina Ackerley Scrabble zu spielen. Ich bin alles andere als ein Scrabble-Fan, dafür wurde ich zu oft von meinen beiden Tanten gedemütigt. Tansy und Naomi verfügen über ein riesiges Vokabular an Wörtern, die eigentlich nicht gelten sollten – Wörter wie Suq, Tranq oder Bhoot (ein indischer Geist, falls es jemand interessiert). Trotzdem sagte ich, ich würde sehr gern mitspielen. Immerhin war Mrs. Shoplaw meine Vermieterin, und Diplomatie kann viele Formen annehmen.
    Auf dem Weg nach unten vertraute sie mir den Grund der Einladung an: »Wir helfen Tina dabei, sich einzuschießen. Im Scrabble ist sie eine ziemliche Kanone, und sie tritt nächstes Wochenende in Atlantic City bei einem Turnier an. Wenn ich mich nicht täusche, ist da ein Preisgeld ausgesetzt.«
    Es dauerte nicht lange – vielleicht vier Runden –, bis mir klar war, dass unsere brave Bibliothekarin selbst für meine Tanten eine harte Nuss gewesen wäre. Als Miss Ackerley das Wort Bonität auslegte (natürlich mit jenem entschuldigenden Lächeln, das allen Scrabble-Kanonen gemein ist; bestimmt üben die das vor dem Spiegel), lag Emmalina Shoplaw achtzig Punkte zurück. Und ich? Tja, reden wir lieber nicht darüber.
    »Von Ihnen beiden kennt nicht jemand zufällig Annie und Mike Ross?«, fragte ich während einer Atempause (beide Frauen schienen es für notwendig zu erachten, das Brett gaaaanz lange zu betrachten, bevor sie auch nur einen einzigen Stein hinlegten). »Sie wohnen am Beach Row in dem großen grünen Haus.«
    Miss Ackerley hielt inne, die Hand immer noch in dem kleinen, braunen Beutel mit den Buchstaben. Ihre Augen waren groß und wirkten durch die dicken Brillengläser noch größer. »Sind Sie ihnen begegnet?«
    »Mhm. Sie haben versucht, einen Drachen steigen zu lassen … na ja, sie hat es versucht … und

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